Messerattacke in Brokstedt: Bisher kaum Forderungen umgesetzt
Rund fünf Monate nach dem Messerangriff in Brokstedt hat am Freitag der Prozess vor dem Landgericht Itzehoe begonnen. Was hat sich seitdem verändert? NDR Schleswig-Holstein hat nachgefragt.
Am 25. Januar soll der Palästinenser Ibrahim A. zwei Menschen im Alter von 17 und 19 Jahren getötet haben. In einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg habe A. mit einem Messer um sich gestochen, fünf weitere Fahrgäste wurden teils lebensgefährlich verletzt. Die Aufarbeitung der Tat offenbarte ein Behördenchaos in mehreren Bundesländern. Politiker und Politikerinnen forderten Konsequenzen. In Schleswig-Holstein einigten sich CDU und Grüne auf ein Zehn-Punkte-Papier. Wir haben einige der Forderungen auf Umsetzung geprüft.
Ibrahim A. ist mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten aufgefallen. Die Straftaten, die A. begangen hat, waren dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) jedoch über Jahre hinweg nicht bekannt. So wurde A. der subsidiäre Schutz zugesprochen und das, obwohl er in Nordrhein-Westfalen wegen einer gefährlichen Körperverletzung verurteilt worden war. Ein Ergebnis fehlender und unklarer Kommunikationswege.
Zentrales Postfach für bessere Behördenkommunikation
Als Konsequenz versprach die Politik länderübergreifende Maßnahmen. Schleswig-Holsteins Justizministerin Kerstin von der Decken (CDU) forderte "ein zentrales Postfach, das die Kommunikation zwischen Strafgerichten und Ausländerbehörden verbessern soll". Diese Frage betreffe nicht nur Hamburg und Schleswig-Holstein, sondern "alle Behördenkommunikation zwischen dem Bundesländern", sagte von der Decken. Wann die zentrale bundesweite Eingangsstelle eingerichtet wird, ist auch nach gut fünf Monaten nicht klar. "Daran arbeiten wir", so Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) auf NDR-Anfrage. "Ich kann nicht genau sagen, wann es fertig sein wird", räumte die Innenministerin ein.
In der Aufarbeitung der Tat hieß es außerdem, dass die Hamburger Justizbehörden die Kieler Ausländerbehörde über den Status des A. per E-Mail informiert haben. In der Kieler Ausländerbehörde waren diese Informationen zunächst nicht auffindbar. Als Lehre aus der Tat betonte die Stadt Kiel die Notwendigkeit von Standards und gemeinsamen Registern. Ob und welche Maßnahmen genau getroffen wurden, dazu wollte sich der zuständige Kieler Stadtrat Christian Zierau auf Anfrage des NDR nicht äußern.
Kritik der SPD: "Ausgeprägte Kultur der Nichtzuständigkeit"
Im Kieler Landtag ist insbesondere die Opposition unzufrieden. SPD-Innenpolitiker Niclas Dürbrook kritisiert die "sehr ausgeprägte Kultur der Nichtzuständigkeit" im Fall Brokstedt.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in Hamburg. Gemeinsam mit Innensenator Andy Grote (SPD) hat Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) ein Maßnahmenpaket erarbeitet. Unter anderem soll die Videoüberwachung in Fernzügen ausgebaut und Daten von ausländischen Intensivtätern bundesweit ausgetauscht werden. Anfang 2024 sollen sogenannte Übergangscoaches die Untersuchungshäftlinge unterstützen. Für Cansu Özdemir von der Linksfraktion hat das keine Hebelwirkung, um Straftaten zu verhindern. "Es fehlen konkrete Konzepte, für verbesserte Angebote für Untersuchungshäftlinge", kritisiert Özdemir. Aus Sicht von Richard Seelmaecker, CDU-Sprecher des Hamburger Justizausschusses, hat sich seit Monaten wenig bewegt. "Ich befürchte, dass ein Fall, wie in Brokstedt geschehen, wieder möglich ist." Denn auch in Hamburg seien "keine Vorkehrungen, getroffen worden, die das sicher ausschließen würden."
Erinnerung statt Postfach
Im Mai versandte das BAMF eine Erinnerung an die Generalstaatsanwaltschaft, um auf die Verwendung der elektronischen Behördenpostfächer hinzuweisen. "Wir haben aus Brokstedt gelernt, dass wir häufiger auf diese Kommunikationswege sensibilisieren müssen", so ein Sprecher auf NDR-Anfrage. Weitere Postfächer wurden aber nicht eingerichtet.
Gemeinsame Ermittlungsgruppe nach Hamburger Vorbild
Der FDP-Landtagsabgeordnete Bernd Buchholz aus Schleswig-Holstein forderte nach der Messerattacke von Brokstedt eine gemeinsame Ermittlungsgruppe nach Hamburger Vorbild, um die Arbeit der Ausländerbehörden und der Polizei zusammenzuführen.
In Schleswig-Holstein sei eine gemeinsame Ermittlungsgruppe nicht geplant. "Damit haben wir uns beschäftigt. Hamburg hat andere Voraussetzungen, das ist ein Stadtstaat, wir sind ein Flächenstaat", sagte Sabine Sütterlin-Waack. Sie sieht anderen Handlungsbedarf: "Es geht zum einen um die Automatisierung der Verfahren, es geht um mehr Sicherheit in Zügen und darum, wie wir Mehrfach-Straftäter besser identifizieren können", so die Innenministerin. Nach ihren Anhaben habe man "schon erste Erfolge in der Videoüberwachung an Bahnhöfen und in den Zügen erzielt."
Videoüberwachung an Bahnhöfen
Am Bahnhof Brokstedt gebe es jedoch "keine sichtbare Veränderung", sagt Bürgermeister Clemens Preine (CDU). Derzeit sieht er weder eine verstärkte Polizeipräsenz, noch Videoüberwachung vor Ort, die nach der Tat eingeführt wurde. Um Sicherheitsfragen zu diskutieren, wurde kurz nach der Tat eine Arbeitsgruppe gebildet, bestehend aus Bundespolizei, Landespolizei, DB-Sicherheit, Gewerkschaft der Lokführer, Pro Bahn, NAH.SH, weiteren Verkehrsunternehmen aus Schleswig-Holstein sowie dem Justiz- und Verkehrsministerium. Bahngewerkschafter Hartmut Petersen begrüßt den Austausch in der Arbeitsgruppe. Dennoch fehlt aus seiner Sicht weiterhin die Umsetzung. Er beobachtet "nur Lippenbekenntnisse".
Für mehr Sicherheitsmaßnahmen wie Videoüberwachung sollen Bund und Bahn 180 Millionen Euro investieren. Dennoch bleibt die Umsetzung unklar. "Für den Reisenden ist wenig sichtbares passiert", sagt auch Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn. Naumann sieht die Notrufsäulen an der Hamburger Hochbahn als Vorbild. Dies müsse auch auf weitere Bahnhöfe in Schleswig-Holstein ausgeweitet werden. "So können auch ältere Menschen unabhängig von einem Smartphone Hilfe erbitten." Dass Straftaten auch bei Kameraüberwachung begangen werden, dessen ist sich Naumann bewusst. Aus seiner Sicht sei sie dennoch wichtig, um die Aufarbeitung zu vereinfachen.
Sieben Prozent der Bahnhöfe in Schleswig-Holstein videoüberwacht
Die Bundespolizei sieht Videokameras "insbesondere in Kombination mit der sichtbaren Präsenz von Polizeibeamten" als geeignetes Mittel um potenzielle Straftäter abzuschrecken, so eine Sprecherin. Veränderte Maßnahmen zur Videotechnik gibt es bei der Deutschen Bahn nicht. Von 137 Bahnhöfen in Schleswig-Holstein sind derzeit rund sieben Prozent videoüberwacht. Neben Kiel und Lübeck sind dies die Bahnhöfe in Wedel, Pinneberg, Thesdorf, Halstenbek, Krupunder, Aumühle, Reinbek und Wohltorf. "Derzeit laufen zudem Arbeiten, um auch die größeren Stationen Neumünster und Elmshorn auszustatten", so ein Bahnsprecher. Bis Ende 2024 soll die Anzahl der Videokameras bundesweit von 9.000 Kameras auf rund 11.000 erhöht werden, so die Deutsche Bahn. Eine Reaktion auf den Fall in Brokstedt sei das jedoch nicht.
Mehr Kontrollen in Zügen und Waffenverbotszonen
Die Errichtung von Waffenverbotszonen war eine weitere Forderung aus dem Zehn-Punkte-Papier der Fraktionen von CDU und Grünen in Schleswig-Holstein. Hier sei man nach Sütterlin-Waack "ein ordentliches Stück weiter". Zuletzt wurde die Forderung von Waffenverbotszonen in der Innenministerkonferenz durchgesetzt. Derzeit sei "in Prüfung, ob das bundesweit eingeführt werden kann", so Sütterlin-Waack. Die Nachfrage bei der Landespolizei ergibt: Auch diese Maßnahmen wurden bislang nicht umgesetzt. Es sei zeitlich nicht abzusehen, wann Polizisten in Zivil in Zügen mitfahren werden, sagt Torsten Jäger, Landesvorsitzender der Gewerkschaft GdP. "Die Maßnahmen wurden diskutiert, aber noch nicht umgesetzt", so Jäger. Auch bei der Bundespolizei wurden keine neuen Maßnahmen umgesetzt, die als Lehre von Brokstedt folgten.
Zumindest ein konkretes Ergebnis ist in Sichtweite: In einer bundesweiten Studie soll die Anzahl der Messerangriffe aus den letzten 10 Jahren ermittelt werden. Ergebnisse werden im Herbst erwartet.