Justizbeamte stehen zu Beginn des Prozesstages im Gerichtssaal. © dpa-Bildfunk Foto: Marcus Brandt

Stutthof-Prozess: 94-jähriger Zeuge aus Israel sagt aus

Stand: 15.02.2022 16:45 Uhr

Vor dem Landgericht Itzehoe ist der Prozess gegen eine 96-Jährige wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen im früheren Konzentrationslager Stutthof bei Danzig fortgesetzt worden. Ein Überlebender sagte als Zeuge per Videoschalte aus.

Abraham Koryski war damals erst 16 Jahre alt, nur etwas jünger als damals die Angeklagte. Für vier Monate war er im KZ Stutthof - von September 1944 bis Ende Januar 1945. Der heute 94-Jährige wurde per Video aus Israel zugeschaltet und schilderte seine Erlebnisse. Er erzählte, wie er aus dem Krematorium noch heiße menschliche Knochen einsammeln musste, wie Wachen einen Hund auf Gefangene gehetzt hatten und dass er jeden Tag von Leichen umgeben war.

Gleich bei der Ankunft habe er einen Geruch nach verbranntem Fleisch wahrgenommen. "Ihr werdet zu diesem Geruch werden", habe das Wachpersonal gesagt. Es habe von Anfang an Prügel gegeben. Mehrfach habe er Hinrichtungen beobachtet, sagte der 94-Jährige.

Bis heute Albträume und Angstzustände

Die meisten Häftlinge seien verhungert, sagte Koryski. Jeder Tag habe damit begonnen, die Leichen der in der Nacht Gestorbenen aus der Baracke zu schaffen. Es seien aber auch Menschen vergast oder Opfer sadistischer Aktionen geworden. Bis heute habe er Albträume und Angstzustände deswegen. Von den Taten habe seiner Meinung nach jeder auf dem Gelände gewusst und es auch mitbekommen.

VIDEO: Stutthof-Zeitzeuge Koryski: "Der Tod war allgegenwärtig" (5 Min)

Er berichtete, er sei anfangs in einem jüdischen Ghetto in Vilnius (heute Litauen) gefangen gehalten worden. Dort sei sein Vater erschossen worden. Seine Mutter sei in Lettland ums Leben gekommen. Er selbst sei 1944 in Tallinn (Estland) auf ein Schiff nach Stutthof gebracht worden. Von der Baracke, in der er damals untergebracht war, konnte er auch die Kommandantur sehen, den Arbeitsplatz der Angeklagten. Die Angeklagte kenne er aber nicht. "Sie interessiert mich, ehrlich gesagt, auch nicht", sagte Koryski. Er habe keine Rachegefühle. "Meine Rache war, dass ich gerettet wurde und eine Familie gegründet habe." Seine Botschaft an die nächste Generation sei: "Nicht zu vergessen, sich zu erinnern!" Der 94-Jährige machte seine Aussage in einem Seniorenheim in Haifa, in Anwesenheit seiner Rechtsanwältin.

Weitere Zeugenaussagen vorgetragen

Ein anderer Nebenklagevertreter, Rechtsanwalt Christoph Rückel, trug im Anschluss aus Zeugenaussagen vor, die das Gericht den Prozessbeteiligten zum Lesen gegeben hatte. Demnach hatte eine andere ehemalige Schreibkraft in der Lagerkommandantur 1954 ausgesagt, Kommandant Paul Werner Hoppe habe mehrfach bemängelt, dass Exekutionsbefehle aus Berlin nicht vom SS-Gruppenführer Heinrich Müller unterschrieben waren. Es habe zwei Todesarten gegeben: Erschießen und Erhängen. Vollzogene Hinrichtungen seien genau mit Namen und Uhrzeit nach Berlin gemeldet worden.

Vergasungsbefehle seien Hoppe nicht sehr sympathisch gewesen, erklärte die Zeugin 1954. Rückel schlussfolgerte daraus, dass über Vergasungen in der Kommandantur gesprochen wurde. Eine andere ehemalige Zivilangestellte habe ebenfalls 1954 als Zeugin ausgesagt: "Es war unter uns allgemein bekannt, dass jüdische Personen vergast wurden." Verteidiger Wolf Molkentin wandte ein, dass diese Zeugin mit Sekretariatsarbeiten in der Bauleitung befasst gewesen sei, wo sie - im Unterschied zur Angeklagten - Kontakt zu Häftlingen hatte.

Vorwurf: Systematische Tötung unterstützt

Die angeklagte frühere KZ-Sekretärin Irmgard F. soll von Juni 1943 bis April 1945 in der Kommandantur des deutschen Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig als Zivilangestellte gearbeitet haben. Weil sie damals erst 18 bis 19 Jahre alt war, findet der Prozess vor einer Jugendstrafkammer am Landgericht statt. Im KZ Stutthof und seinen Nebenlagern sowie auf den sogenannten Todesmärschen zu Kriegsende starben nach Angaben der für die Aufklärung von NS-Verbrechen zuständigen Zentralstelle in Ludwigsburg etwa 65.000 Menschen.

Irmgard F. wird zur Last gelegt, durch ihre Schreibarbeit die Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von mehr als 11.000 Gefangenen unterstützt zu haben. Irmgard F. zog nach Kriegsende nach Schleswig-Holstein und arbeitete hier weiter als Schreibkraft. Die Rentnerin lebt in einem Altenheim in Quickborn im Kreis Pinneberg.

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NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 15.02.2022 | 14:00 Uhr

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