Sturmflut an der Ostseeküste in SH: Todesopfer auf Fehmarn
Ein Sturmtief sorgt für Hochwasser an der Ostsee in Schleswig-Holstein. Eine Frau starb, als ein Baum auf ihr Auto fiel. In Flensburg erreicht der Wasserstand einen Rekordwert. Einzelne Orte werden evakuiert. Dieser Artikel hat den Stand von Sonnabend, 0.14 Uhr. Aktuelle Weiterentwicklungen ab Sonnabendmorgen lesen sie hier: Pegelstände sinken, hohe Schäden vermutet.
Inhaltsverzeichnis
- Flensburg: Jahrhundert-Rekord erreicht
- Kreis Schleswig-Flensburg: Kampf um die Deiche
- Lübeck: Viele Straßen überflutet
- Fehmarn: Erstes Todesopfer
- Kreis Ostholstein: Deiche in Gefahr
- Kiel: Deichweg und Kiellinie gesperrt
- Kreis Rendsburg-Eckernförde: Evakuierung in Brodersby
- Auswirkungen auf den ÖPNV
- Dazu raten die Behörden
Straßen und Uferbereiche an Schleswig-Holsteins Ostseeküste sind in Folge des Sturmtiefs überflutet. Vielerorts liegt der Pegel zwischen 1,70 und 2 Meter über dem mittleren Wasserstand. In Flensburg steigt der Pegel auf ungeahnte Höhen: 2,17 Meter über dem mittleren Wasserstand - Höchstwert seit über 100 Jahren. In Arnis im Kreis Schleswig-Flensburg mussten die Feuerwehrleute einen Deichabschnitt aufgeben - er droht zu brechen. Gleiches gilt für den Deich im Fischerdorf Maasholm. In Kappeln ist dies bereits auf einer Strecke von 40 Metern passiert. Allein im Kreis Schleswig-Flensburg sind am Freitagabend insgesamt 700 Feuerwehrleute im Einsatz. Auf der Insel Fehmarn (Kreis Ostholstein) ist im Zusammenhang mit der Wetterlage ein Mensch ums Leben gekommen.
Die Sturmflut soll nach Angaben des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) in der Nacht zu Sonnabend ihren Höhepunkt erreichen und dann langsam abklingen.
Fehmarn: Erstes Todesopfer durch umstürzenden Baum
Auf der Insel Fehmarn ist am Freitagnachmittag eine 33 Jahre alte Frau auf Kreisstraße zwischen Burg und Puttgarden ums Leben gekommen. Für die schwer verletzte Person sei jede Hilfe zu spät gekommen, sagte Bürgermeister Jörg Weber.
Weber spricht außerdem von einer kritischen Lage unter anderem am Fehmarnsund. Im Osten der Insel seien Teile der Küste weggebrochen. Die Ortschaft Fehmarnsund wird laut Weber voraussichtlich wegen des Hochwassers evakuiert. Möglicherweise kommen die Menschen dann in einer Turnhalle unter. Das ist laut Bürgermeister noch nicht endgültig geklärt.
Weber rief am Freitag dringend dazu auf, nicht nach Fehmarn zu fahren, insbesondere nicht mit Anhängern oder leeren Lastwagen. Auf der Fehmarnsundbrücke waren in der Vergangenheit schon häufiger Fahrzeuge vom Wind umgeweht worden. Vor Fehmarn mussten am Freitag zehn Menschen und ein Hund von ihren Hausbooten gerettet werden, da die Stege zum Land bereits überflutet waren.
Flensburg: Stromabschaltung an der Schiffbrücke
Wegen des Hochwassers wurde der Strom in den Flensburger Straßenzügen Norderhofenden und Schiffsbrücke abgeschaltet. Konkret gehe es um den Bereich vom ZOB bis zum Nordertor, der Hafenspitze und von "Gosch" bis zum Fischereiverein auf der Hafenostseite, wie ein Sprecher der Stadt am Freitagabend mitteilte. Betroffene Haushalte sollen demnach von Nachfragen zur Stromabschaltung über die Notrufnummern absehen.
Pegel mehr als zwei Meter über dem normalen Wasserstand
In Flensburg kletterte der Pegel am späten Freitagabend (23.58 Uhr) bis auf 2,22 Meter über den Mittleren Wasserstand. Das ist der höchsten Pegelstand seit mehr als 100 Jahren. Im Vorwege waren lediglich Pegelstände von bis zu zwei Meter über dem Mittleren Wasserstand erwartet worden.
Bei der letzten Sturmflut im Januar 2019 stieg das Wasser in Flensburg auf 1,68 Meter über den mittleren Wasserstand an.
Schleswig: Hunderte Keller voll, freiwillige Evakuierungen geplant
In Schleswig (Kreis Schleswig-Flensburg) sind am Freitagabend laut dem stellvertetenden Bürgermeister Rainer Haulsen bereits einige Hundert Keller vollgelaufen. "Die Situation verschärft sich gerade insofern, dass diverse Straßen überlaufen und wir eine freiwillige Evakuierung der betroffenen Anwohner planen", sagte Haulsen. Das betreffe vor allem die Straßen Lollfuß und Schleistraße.
Feuerwehren pumpen keine Keller mehr leer in Schleswig
Feuerwehren rücken derzeit nicht mehr aus, um Keller auszupumpen, weil die Straßen dadurch nur weiter überlaufen würden. 70 Feuerwehrleute seien im Einsatz, dazu noch mehr als 60 Mitarbeitende der Stadtwerke. Der südliche Innenstadtbereich komplett ist für den Fahrzeugverkehr gesperrt. Die Stadt bittet darum, das Gebiet weiträumig zu umfahren und nur notwendige Fahrten zu unternehmen. Auch der ÖPNV ist von den Straßensperrungen betroffen.
Auch rund um den Nord- und Südhafen in Kappeln (Kreis Schleswig-Flensburg) stehen zahlreiche Straßen unter Wasser und sind gesperrt. Die Polizei rät, auch dieses Gebiet zu umfahren. Im Ortsteil Olpenitz haben die Helfen den Deich bei Weidefeld aufgegeben - sie sichern ihn also nicht weiter.
Ostseeinsel Holnis: Bewohner sollen wegfahren
Auf der Ostseehalbinsel Holnis (Kreis Schleswig-Flensburg) ruft die Feuerwehr am Freitagnachmittag Bewohner der umliegenden Gemeinden dazu auf, sich ins Auto zu setzen und wegzufahren. Das sei kein Zwang, aber eine dringliche Empfehlung. Die Feuerwehr geht davon aus, dass sie wegen des Sturms möglicherweise in wenigen Stunden selbst nicht mehr nach Holnis und Umgebung fahren kann.
Maasholm: Bewohner bereiten sich auf Evakuierung vor
Im Fischerdorf Maasholm (Kreis Schleswig-Flensburg) werden die Bewohner zurzeit evakuiert. Dort droht der Deich zu brechen. Die Feuerwehr musste den Damm aus Sicherheitsgründen aufgeben. Betroffen sind laut Katastrophenschutzleiter Rainer Stimke rund 400 Menschen in den Ortsteilen Exhöft, Maasholm-Bad und Gut Oehe.
Arnis: Zwei Deiche gebrochen
Auch die kleinste Stadt Deutschlands, Arnis an der Schlei im Kreis Schleswig-Flensburg, kämpft mit den steigenden Pegelständen. Die Uferbereiche waren am frühen Nachmittag bereits komplett überspült. "Das Wasser steigt weiter", sagte der stellvertretender Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Arnis, Axel Kühn am Freitagabend. Zwei Deiche sind in der Nacht gebrochen. Einige Häuser im Norden von Arnis stünden unter Wasser. "Aber wir sind zuversichtlich, dass wir den Rest halten können", so Kühn.
Die Freiwillige Feuerwehr hat aber nicht nur betroffene Häuser mit Sandsackbarrikaden gesichert, sondern auch schon die erste Zufahrtsstraße. "Bleibt weg", sagt Axel Kühn von der Freiwilligen Feuerwehr Arnis in Richtung möglicher "Hochwasser-Touristen". Die Einsatzkräfte hätten "alle Hände voll zu tun. Jedes Auto, das uns hier in die Quere kommt, ist eins zu viel."
Im Gespräch mit NDR Schleswig-Holstein zeigte sich Schleswig-Flensburgs Landrat Wolfgang Buschmann (parteilos) beeindruckt von der "riesigen Hilfsbereitschaft" in Arnis. Rund 30.000 Sandsäcke hat der Kreis Schleswig-Flensburg bisher in allen Gemeinden verteilt. Bei Bedarf stehen nach eigenen Angaben weitere 40.000 zur Verfügung.
Brodersby: Evakuierung gestartet
In Brodersby (Kreis Rendsburg-Eckernförde) wurde am späten Freitagabend der Ortsteil Schönhagen evakuiert. Bewohner der Straßen Weidengrund, Erlengrund, Günter-Remien-Ring, Am Holm und Zum Wiesengrund wurden um 22.20 Uhr dazu aufgefordert, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. In der Strandstraße 1 (Hamburger Sportjugend) wurde eine Notunterkunft eingerichtet.
Eckernförde: Freiwillige Evakuierung in der Innenstadt
In Eckernförde hat der Kreis Rendsburg-Eckernförde den Bewohnern der Straßen Langebrückstraße, Ottestraße und Jungfernstieg die freiwillige Evakuierung nahegelegt. Die Feuerwehr gab unterdessen ihre Innenstadt-Wache auf. Das Wasser steht dort so hoch, dass die Feuerwehr nicht mehr ausrücken kann, sagte Matthias Schütte vom Kreisfeuerwehrverband.
Weitere Einsatzschwerpunkte im Kreis Rendsburg-Eckernförde lagen am Freitag laut Feuerwehr in der Schleiregion, in Eckernförde und Damp. Dort musste eine Rehaklinik mit Sandsäcken gegen das steigende Wasser gesichert werden. Um die rund 450 Einsatzkräfte in Rendsburg-Eckernförde besser koordinieren zu können, hat der Kreis am Freitagabend den Katastrophenalarm ausgelöst.
Lübeck: Ostseewasser drückt in die Trave
In vielen Orten liegen die aktuellen Messwerte der Pegelstände über den Prognosen. In Lübeck wurden am späten Freitagabend 1,64 Meter über dem mittleren Wasserstand gemessen - in Travemünde waren es 160 Zentimeter. Entlang der Obertrave in der Nähe des Holstentors wurden viele Straßen überflutet. Viele Türen sind mit Schottwänden bis in Hüfthöhe gesichert. In Travemünde auf dem Priwall, in Scharbeutz und Heiligenhafen sind die Strandzugänge mit großen Sandsäcken versperrt. Außerdem blockierten ungesicherte Gegenstände sowie umstürzende Bäume teilweise die Fahrbahnen in Lübeck und im Kreis Ostholstein. Polizei und Feuerwehr schleppten Fahrzeuge aus dem Gefahrenbereich und sperrten Straßen. Mit Lautsprecherdurchsagen wurden Anwohner am Traveufer vor dem Hochwasser gewarnt.
Großenbrode: Deich in Gefahr
In Großenbrode (Kreis Ostholstein) ist offenbar der Deich in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Damm halte noch, sei aber durch die Flut "angefressen", sagte Bürgermeister Peer Knöfler (CDU) am Freitagabend. Lkw bringen nun Schüttgut, damit der Deich geflickt werden kann. Eine Evakuierung ist laut dem Bürgermeister nicht geplant. Menschen seien nicht in Gefahr.
Heringsdorf: Landrat ruft dazu auf, den Küstenbereich zu verlassen
In Heringsdorf dagegen ruft der Landrat des Kreises Ostholstein die Bewohner am Freitagabend dazu auf, unverzüglich den ostseenahen Bereich zu verlassen. Eine Sammelstelle für Betroffene wurde am Feuerwehrgerätehaus der Feuerwehr in Fargemiel eingerichtet. Auch mehrere Campingplätze und eine Ferienhausanlage wurden evakuiert, sagte ein Campingplatzinhaber am Freitagabend. Zahlreiche Urlauber seien betroffen. "Das habe ich in 50 Jahren noch nicht erlebt", so der Inhaber. Noch halte der Deich aber.
Kiellinie in Kiel wegen Sturmflut seit 15 Uhr gesperrt
In Kiel lag der Pegelstand am späten Freitagabend bei 1,91 Meter über dem mittleren Wasserstand. Die Kiellinie und der Deichweg am Falckensteiner Strand sind seit 15 Uhr gesperrt.
Weitere Straßensperrungen - unter anderem für viel befahrene Straßen in der Innenstadt - seien vorbereitet und würden bei Bedarf von der Feuerwehr eingerichtet, sobald dort Wasser auf der Fahrbahn stehen sollte, so die Stadt. Die Stadt rief dazu auf, Fahrzeuge bis zum frühen Freitagnachmittag aus Tiefgaragen und von Parkplätzen in gefährdeten Lagen wegzufahren.
Bis zum Freitagnachmittag musste die Feuerwehr rund 110 mal in den Kreisen Rendsburg-Eckernförde und Plön sowie in Kiel ausrücken, davon 36 mal in der Landeshauptstadt. Meist ging es dabei um nicht rechtzeitig umgeparkte Autos in Schilksee und am Tiessenkai in Holtenau.
Auswirkungen auf den Fährverkehr
Auch auf dem Wasser ist der Verkehr durch den Sturm eingeschränkt. Der Fährbetrieb auf der Strecke zwischen Puttgarden auf Fehmarn und dem dänischen Rødby ist nach Angaben der Reederei Scandlines vorübergehend eingestellt. In Kiel hat die Schlepp- und Fährgesellschaft (SFK) den Betrieb auf den Linien F1 und F2 am Freitag eingestellt. An der Nordseeküste herrscht wegen des starken Ostwinds extremes Niedrigwasser. Das wirkt sich auch auf den Fährverkehr aus. Am Morgen blieben die Fähren der Wyker Dampfschiffs-Reederei zwischen Föhr, Amrum und Dagebüll an Land und auch zwischen Pellworm und Nordstrand fielen mehrere Fähren aus.
Einschränkungen im Bahnverkehr
Im Bahnverkehr kommt es durch umgestürzte Bäume ebenfalls zu Einschränkungen. Wegen einer Teilsperrung auf der Strecke Kiel-Hamburg rät die Deutsche Bahn beispielsweise, auf die Zugstrecke über Lübeck auszuweichen. Um 20 Uhr stellte die Bahn den Betrieb der Linien 72/73 von Eckernförde nach Kiel, 74 von Husum nach Kiel und 75 von Rendsburg nach Kiel ein.
Sturmwarnung bis Samstagnacht
Der Deutsche Wetterdienst (DWD) warnt vor orkanartigen Böen mit Windgeschwindigkeiten bis zu 110 Kilometern pro Stunde. Die Warnung gilt bis Samstagmorgen, 2 Uhr. NDR Schleswig-Holstein Wetterexperte Ronny Büttner sagte, "der Höhepunkt, was Windentwicklung, Regen und Sturm betrifft, wird ab dem Nachmittag bis weit in die Nacht hinein stattfinden". Für Flensburg rechnet auch er mit einer "außergewöhnlichen" Hochwassersituation.
Nach Angaben des BSH beginnt an der Ostseeküste eine Sturmflut bei einem Wasserstand von einem Meter über dem Normalwert. Ab 1,25 Meter wird von einer mittleren Sturmflut und ab 1,5 Metern von einer schweren Sturmflut gesprochen. Steigt das Wasser um mehr als zwei Meter, ist das eine sehr schwere Sturmflut.
Günther dankt Helfern und warnt Schaulustige
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther dankt derweil allen Sturmfluthelfern. Man sei als Land sehr gut aufgestellt, auch die Landesregierung habe einen Krisenstab eingerichtet, so der CDU-Politiker am Freitagnachmittag. Darüber hinaus appellierte Günther an Schaulustige: "Dies ist nicht die Zeit für Katastrophentourismus. Wir alle im Land tragen Verantwortung, in dieser Krise zusammenzustehen."
Umweltminister Goldschmidt ruft zur Vorsicht auf
Umweltminister Tobias Goldschmidt (Grüne), der auch für den Küstenschutz zuständig ist, rief die Küstenanwohner zur Vorsicht auf. Er appelliere "an alle an der Ostseeküste lebenden Menschen, sich gut zu informieren und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu treffen", erklärte Goldschmidt. Mit einer möglichen Dauer von bis zu 40 Stunden könnte die Sturmflut deutlich länger anhalten als ähnliche Unwetterereignisse 2017 und 2019. Strandwälle wie an der Schleimündung könnten überflutet werden. Auch sei mit Strandausräumungen und Steiluferabbrüchen zu rechnen. Fehmarns Bürgermeister Jörg Weber (SPD) mahnte: Wer seine Wohnung oder sein Haus nicht unbedingt verlassen müsse, solle doch bitte drinnen bleiben.
Der amtierende Bundestagspräsident, Wolfgang Kubicki (FDP), sprach den betroffenen Menschen in Schleswig-Holstein und in Mecklenburg-Vorpommern am Freitag in Berlin seine Anteilnahme aus.
Landesforsten: Aufenthalt in Wäldern lebensgefährlich
Die Schleswig-Holsteinischen Landesforsten warnten zudem davor, die Wälder zu betreten. Bei Sturm könnten in den Wäldern starke Äste abbrechen und Bäume umstürzen, was den Aufenthalt lebensgefährlich mache.