Kolumne: Meine Realität, deine Realität - zeigen, was ist
Gerade erst feierten wir den Tag der Deutschen Einheit. Doch genau das Gefühl von "Einheit" vermissen wir in der Gesellschaft. Unsere Kolumnistin fragt sich, warum das so ist - und wie insbesondere Medienschaffende Abhilfe schaffen können.
Als am 9. November 1989 die Mauer fiel und Menschen aus der DDR erstmals in die BRD strömten, prallten Welten aufeinander. Ich war zu der Zeit ein Kleinkind, dennoch weiß ich von Erzählungen, wie sich endlich zusammenfügte, was zusammengehörte. Doch die daraus resultierende Mischung - nun als "Bundesdeutsche" bezeichnet - war heterogener, als sie es vielleicht je zuvor war. Seitdem hat sich das noch weiter aufgesplittert, zumindest scheinbar. Wir, die wir diese Landmasse namens Deutschland unser Zuhause nennen, sind ein ziemlich bunt zusammengewürfelter Haufen Menschen. Genetisch zu 99 Prozent gleich fühlen wir uns doch unfassbar einzigartig. Und vor allem ganz anders als die anderen. Als zum Beispiel dieser Typ da im Zug mit der Jogginghose und dem Bier in der Hand, oder?
Gleich und doch anders
Diese Haltung ist völlig normal und typisch für individualistische Gesellschaften wie die unsere, die nicht mehr kollektivistisch und dörfisch wie früher funktionieren. Sie hat jedoch einen Haken: Das Gefühl von Einheit, von solidarischer Einheit, geht umso mehr verloren, je mehr sich jeder von uns als "anders" gegenüber den "Anderen" empfindet. Dann nämlich sind wir im "Jeder für sich"-Modus, haben Angst, schotten uns ab, bauen Mauern, bewachen Grenzen, schauen zu, wenn der andere ertrinkt. Wir verneinen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, dass es Nord- und Süddeutsche, Ost- und Westdeutsche gibt, dass mittlerweile ein Drittel aller Deutschen einen Migrationshintergrund hat. Und dass der Typ mit dem Bier in der Hand mir morgen vielleicht das Leben rettet.
Im wunderbaren Schlamassel namens Leben
Damit wir weniger empfänglich werden für politische Vorschläge, die genau diese Ängste vor den "Anderen" propagieren, müssen wir unbedingt wieder spüren, dass wir hier alle gemeinsam drinstecken - in diesem wunderbaren Schlamassel namens Leben. Was dabei hilft: aufmerksame, sensible Berichterstattung. Nachrichten, die nicht nur auf Probleme schauen, sondern auch auf Lösungen. Nachrichten, die Geschichten erzählen von Menschen, die inspirieren, die Großartiges leisten. Von Menschen, die im Kleinen leben. Von Menschen, die wir sehen und dennoch nicht sehen. Weil sie vermeintlich anders sind - zu alt sind, zu jung sind, zu dick sind, zu dünn sind, zu arm sind, zu reich sind, zu schwarz sind, zu muslimisch sind, zu jüdisch, zu christlich, zu dumm, zu schlau.
Zeigen, was ist
Der Auftrag, den wir Medienschaffenden haben, lautet: Zeigen, was ist. Diesem Auftrag müssen wir konsequent nachkommen, finde ich. Mit konsequent meine ich: Nicht nur das zeigen, was für uns - meist weiße, gebildete, nicht von Armut gefährdete Redakteurinnen und Redakteure - relevant ist. Nein, wir tragen mit unserem Beruf auch die Verantwortung, das zu zeigen, was außerhalb unserer eigenen Lebenswelt liegt. Und dann möglichst objektiv: Nicht beschönigend, aber auch nicht stereotypisierend. Vor allem müssen wir dabei auf das Ziel schauen: Was wollen wir mit unseren Abbildungen von diversen Lebensrealitäten erreichen? Wollen wir xenophobische Ängste befördern oder abbauen? Wollen wir stigmatisieren, ausschließen und Komplexitäten reduzieren?
Repräsentation ist wichtig für die Gesellschaft
Oder wollen wir repräsentieren - vor dem Hintergrund, dass es nicht nur für die Abgebildeten zählt, dass sie gesehen werden, sondern auch all die anderen drumherum miteinbezieht? Diese Busfahrerin, von der wir in einer Reportage berichten, das könnten auch wir sein. Ihre Sorgen, ihre Hoffnungen, auch unsere. Dieser Jugendliche, der von Erfolg träumt, das könnte unser Kind sein. Der alte Mann, der im Park Flaschen sammelt und uns mit Lebensweisheiten überwältigt, unser Vater. Verbundenheit fühlen, Empathie - das sind Gefühle, die mich solidarisch machen, das sind Gefühle, die mich glücklich machen.