Nach dem Hochwasser: Das lange Warten auf den Deich
Die Bilder aus den überfluteten Gebieten im Süden Deutschlands wecken bei vielen Erinnerungen an das Hochwasser vor einem halben Jahr im Norden. Auch der niedersächsische Ort Ruthe war betroffen. Ein Deich könnte besseren Schutz bieten, aber vom Land Niedersachsen gibt es noch keine Zusage.
Die Sandsäcke sind noch ein Überbleibsel vom Weihnachts-Hochwasser, das in Niedersachsen wochenlang zu Überschwemmungen führte. Ganze 40.000 Stück liegen herum. Einfach, weil es rund um Ruthe noch keinen Deich gibt. "Das ist unsere Vorsorge für das nächste Hochwasser", sagt Ortsbürgermeister Christoph Haferland. "Die Sandsäcke sind hier eingelagert und müssen beim nächsten Mal nicht erst gefüllt werden. Das ist natürlich eine enorme Ersparnis an Zeit und Arbeitskraft."
Die Sandsäcke würden zwar nicht den gleichen Schutz wie ein Deich bieten können. "Aber für neuralgische Punkte könnten sie bei Hochwasser die Rettung sein, auch für Ruthe", so Haferland.
Ein Hochwasser, das Angst machte
Ruthe ist ein Ortsteil der Stadt Sarstedt, mit 323 Einwohnern. Die beiden Flüsse Leine und Innerste fließen hier zusammen. Kurz vor Weihnachten 2023 stiegen die Pegel bedrohlich an. Als Ruthe schon längst von der Außenwelt abgeschnitten war, kündigten Experten eine weitere Flutwelle an. "Ich wohne hier seit 55 Jahren und habe viele Hochwasser mitgemacht", sagt der Ortsbürgermeister. "Aber dieses Mal war es das erste Hochwasser, bei dem ich ein Kribbeln in den Armen gehabt habe, weil die Voraussagen deutlich höher waren als alles, was wir bislang gehabt hatten."
Die Evakuierung war schon vorbereitet
Zum ersten Mal in der Geschichte des Ortes wurde eine Evakuierung vorbereitet. Im Nachbarort waren schon Feldbetten aufgestellt. Und der Plan stand, in welchen Straßenzügen von Ruthe der Strom abgestellt wird. "Zum Schlimmsten ist es dann glücklicherweise nicht gekommen", erzählt Haferland. Die Pegel stiegen am Ende nicht so hoch wie vorhergesagt. "Aber allein die Tatsache, dass wir in den Häusern nach den Stromkästen geschaut haben, hat für Unruhe und Unwohlsein unter den Leuten geführt. Da wurde allen klar: Hier kommt vielleicht etwas auf uns zu, was es bislang noch nicht gab."
Ein Deich würde Sicherheit geben
Und so hoffen viele Menschen darauf, dass Ruthe eingedeicht wird. Die Vorplanungen wurden bereits im Jahr 2012 vorgestellt. "Der Deich würde mehrere Hundert Meter die Ortschaft Ruthe einschließen", erklärt Stadtbrandmeister Jens Klug. "Solch einen Schutz würden wir in einer kurzen Zeit mit Sandsäcken gar nicht hinbekommen." Zumal bei ausgiebigem Regen die Wiesen am Ufer so aufgeweicht seien, dass sie mit schweren Fahrzeugen nicht befahren werden könnten. "Der Deich würde den Menschen hier Sicherheit geben", fügt Ortsbürgermeister Haferland hinzu.
Die Pläne liegen in der Schublade
Immer wieder hat es Versprechungen gegeben, dass der Deich kommt. Passiert ist noch nichts. Das führt zu Ärger und Frust in der Region. "Leider zieht sich dieses Projekt schon seit vielen Jahren hin", sagt die Bürgermeisterin von Sarstedt, Heike Brennecke. "Die Pläne liegen in der Schublade, aber es scheitert im Moment noch an der Finanzierung."
Das Land Niedersachsen hat Ende Mai mitgeteilt, dass insgesamt 43 Millionen Euro für den Hochwasserschutz bereitgestellt werden sollen. Das Geld soll für mehr als 100 Projekte reichen, darunter Deiche, Überschwemmungsflächen und ein Frühwarnsystem. Ob auch Ruthe profitiert, ist unklar.
Im kommenden Herbst sollen für Ruthe erneut Förderanträge ans Land gestellt werden. Bürgermeisterin Brennecke hofft, dass sie dieses Mal Erfolg haben - "gerade mit dieser Situation, die wir hier über Weihnachten erlebt haben." Die Entscheidung wird im Laufe des Jahres 2025 getroffen. Im Gespräch mit dem NDR bittet ein Behördenvertreter um Geduld. Das Prüfen der Anträge koste eben Zeit.
Die Planungen dauern oft viele Jahre
Ruthe ist längst nicht der einzige Ort in Niedersachsen, der auf besseren Hochwasser-Schutz hofft. Viele weitere Gemeinden warten ebenfalls seit Jahren auf einen Deich oder höhere Spundwände. Fest steht: Noch sind die gefährdeten Regionen in Niedersachsen nicht besser vor einem Hochwasser geschützt als vor einem halben Jahr. So sieht es auch der Hochwasser-Experte Holger Schüttrumpf von der Universität Aachen: "Die Zeit seit dem Weihnachts-Hochwasser war bislang einfach zu kurz, um irgendwelche großen Fortschritte zu machen. Wenn wir Maßnahmen zum Hochwasser-Schutz umsetzen wollen, kostet uns das immer unglaublich viel Zeit."
Allein die Planungs- und Genehmigungsphasen dauern häufig viele Jahre. "Wenn es nur darum geht, einen Deich instand zu halten, sind wir schneller. Das kann auch im Bereich von einigen Monaten und wenigen Jahren passieren", so Schüttrumpf.
"Das vergisst man sein Leben lang nicht"
Das lange Warten auf einen Deich sei eine enorme Belastung für die Menschen vor Ort. "So ein dramatisches Hochwasser bleibt nachhaltig im Gedächtnis", sagt der Experte. "Wer mal betroffen war, vergisst das sein Leben lang nicht mehr. Das ist eine unglaubliche psychische Belastung." Holger Schüttrumpf fordert mehr Hochwasser-Schutz - und zwar schnell. Das Problem dabei sei eine wiederkehrende "Hochwasser-Demenz". "Die Betroffenheit ist ja extrem hoch bei Hochwasser-Ereignissen. Das ist auch das, was wir gerade wieder in Süddeutschland erleben. Aber in drei Monaten interessiert sich außer den Betroffenen kein Mensch mehr dafür", so der Wissenschaftler.
Geben alle ihr Grundstück her?
Das Land Niedersachsen gelobt zumindest Besserung. Und auch Ortsbürgermeister Christoph Haferland hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Dabei sieht er noch ein weiteres Problem. Selbst wenn eines Tages die Finanzierung für die Eindeichung stehen sollte, müssten erstmal alle an einem Strang ziehen. "Denn es ist so: Nicht alle finden einen Deich gut", so Haferland. "Und wenn jemand sein Grundstück nicht zur Verfügung stellt, zieht sich alles noch weiter in die Länge."
Hochwasser-Schutz im Norden - Wie geht es voran?
Nicht nur in Niedersachsen setzen viele Menschen auf Fortschritte beim Hochwasser-Schutz. Auch in weiteren Regionen im Norden ist dies ein großes Thema. Was haben Städte und Landkreise im Norden bereits unternommen, um besser gegen Hochwasser-Schäden gerüstet zu sein? Und welche Planungen gibt es? Dazu hat der NDR im Jahr 2023 gemeinsam mit WDR, BR und CORRECTIV eine große Umfrage unter allen 400 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland gestartet. Die Ergebnisse für Norddeutschland finden Sie in der folgenden Karte. Klicken Sie einfach auf einen Landkreis oder eine Stadt Ihrer Wahl, dann sehen Sie den Text mit den entsprechenden Maßnahmen.