Klimaschutz: Deutschland verfehlt laut Expertenrat Klimaziele
Die Maßnahmen gegen den Klimawandel reichen nicht aus: Bis 2030 wird Deutschland 331 Millionen Tonnen Kohlendioxid mehr ausstoßen, als es das ohnehin zu unambitionierte Klimaziel der Regierung vorsieht. Das zeigt ein Ende August 2023 veröffentlichter Bericht.
65 Prozent weniger Kohlendioxid (CO2) als im Jahr 1990 will Deutschland 2030 in die Luft blasen. So wurde es im Klimaschutzgesetz festgeschrieben. Dieses Ziel wird wohl knapp erreicht, doch auf dem Weg dahin wird in den kommenden Jahren zu viel CO2 ausgestoßen. Das stellt der Ende August mit monatelanger Verspätung veröffentlichte Projektionsbericht 2023 zu den künftigen Treibhausgas-Emissionen fest, der im Auftrag des Umweltbundesamts (UBA) erstellt wurde. Die bis Ende August 2022 beschlossenen Klimaschutz-Maßnahmen reichen demnach nicht aus, um die Emissionen bis 2030 weit genug zu senken. Auch der aktuelle Entwurf der Bundesregierung für ein Klimaschutzprogramm mit rund 130 Maßnahmen reiche nicht aus, so der Expertenrat für Klimafragen in seiner ebenfalls Ende August veröffentlichten Stellungnahme.
331 Millionen Tonnen CO2 zu viel bis 2030
Rechnet man zusammen, wie viel CO2 in Deutschland von 2023 bis 2030 laut der Modellrechnung im Projektonsbericht zu viel ausgestoßen wird, dann ergibt sich eine Klimaschutzlücke von insgesamt 331 Millionen Tonnen. "331 Millionen Tonnen sind schon erheblich", sagte eine Sprecherin des UBA. "Die Gesamtlücke bis 2030 beträgt mehr als 40 Prozent unserer derzeitigen Jahresemissionen. Um das einzusparen, sind weitere Maßnahmen notwendig."
Expertenrat: Klimaschutz-Lücke eher noch größer
Wenn man die Klimaschutz-Maßnahmen hinzunimmt, die bis Ende August vergangenen Jahres bereits geplant, aber noch nicht beschlossen wurden, dann wird Deutschland zwar im Jahr 2030 das eigene Klimaziel von 65 Prozent Reduktion knapp erreichen, aber wird in den Jahren vorher in der Summe immer noch 194 Millionen Tonnen Treibhausgase zu viel ausstoßen, so der Projektionsbericht. Und die Lücke zum im Klimaschutzgesetz festgeschriebenen Ziel werde eher noch größer ausfallen, sagte der Vorsitzende des Expertenrats für Klimafragen (ERK), Professor Hans-Martin Henning. Denn die zum Zeitpunkt der Modellierung getroffenen Annahmen seien mittlerweile nicht mehr gültig, zum Beispiel weil Pläne für das Gebäudeenergiegesetz verändert wurden oder fraglich sei, ob der Ausbau der erneuerbaren Energien mit dem angenommenen Tempo voranschreite.
Umwelthilfe beklagt "Rechtsbruch" des Klimaschutzgesetzes
"Einen Rechtsbruch der eigenen Gesetze", nannte Barbara Metz, Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Umwelthilfe, die Verfehlung der Klimaziele in einem Interview auf Phönix. Und die stellvertretende ERK-Vorsitzende Brigitte Knopf vermisst ein Gesamtkonzept der Regierung mit Monitoring und Controlling, um sichtbar zu machen, welche genauen Effekte die einzelnen Klimaschutzmaßnahmen haben und ob damit die Klimaziele erreicht werden.
Selbst das Klimaziel liegt nicht im grünen Bereich
Dabei reicht das von der Regierung gesteckte Klimaschutzziel für 2030 nicht mal aus, um die Erderwärmung unter 1,5 Grad zu halten, wie es fast alle Länder im Jahr 2015 in Paris miteinander vereinbart haben. Das zeigen Daten aus dem sogenannten Climate Action Tracker (CAT). Sie veranschaulichen, wie die deutschen CO2-Emissionen reduziert werden müssten, damit die Erderwärmung wahrscheinlich unter 1,5 Grad (grüner Bereich der Grafik), unter 2 Grad (gelb) oder unter 3 Grad (orange) gehalten wird - angenommen alle Länder leisten pro Einwohner den gleichen Beitrag.
Wie die Grafik zeigt, liegen nicht nur die Emissionen im Jahr 2022 im gelben Bereich, sondern auch das Klimaschutzziel für 2030 selbst. "Deutschland befindet sich auf dem Weg zu +2 Grad durchschnittlicher Erderwärmung", sagte Hanna Fekete vom NewClimate Institute, das zusammen mit einem weiteren gemeinnützigen Institut den Climate Action Tracker erstellt. "Das Ziel ist nicht genügend. Und die beschlossenen Maßnahmen sind noch ungenügender, weil wir damit das Ziel nicht erreichen", so Fekete.
CO2-Emissionen: Für faire Verteilung muss Deutschland mehr tun
Im Sinne einer fairen Verteilung weltweit reicht allerdings selbst der grüne Bereich nicht aus - und Deutschland müsste sich noch mehr engagieren. Denn in Paris wurde vereinbart, dass Länder wie Deutschland mehr zum Klimaschutz beitragen sollen, weil sie eine hohe wirtschaftliche Kraft haben und seit Beginn der Industrialisierung schon deutlich mehr ausgestoßen haben als der Durchschnitt der anderen Länder. Für einen fairen, angemessenen Beitrag müssten die deutschen CO2-Emissionen bereits bis 2031 auf Null gesenkt werden, besagt eine Analyse des Sachverständigenrates für Umweltfragen. Und laut Climate Action Tracker müssten die deutschen Emissionen bei fairer Verteilung der notwendigen Anstrengungen sogar schon im Jahr 2030 rein rechnerisch deutlich unter Null landen - zum Beispiel, indem mehr Bäume gepflanzt, Moore renaturiert und Klimaschutzprojekte im Ausland finanziert werden.
Geringeres CO2-Budget weltweit
Neue Berechnungen zum weltweit verbleibenden CO2-Budget könnten den verbleibenden Zeitraum sogar noch weiter verkürzen. Denn laut einer Ende Oktober veröffentlichten Studie darf die Menschheit nur noch deutlich weniger CO2 ausstoßen, als im 6. Bericht des Weltklimarats IPCC beschrieben. Zumindest, wenn sie noch eine reelle Chance haben will, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.
Verkehr, Gebäude, Energie: Welcher Sektor muss wie viel CO2 reduzieren?
Dennoch hat die Bundesregierung ihre Klimaziele in ihrem Vorschlag zur Neufassung des Klimaschutzgesetzes vom vergangenen Juni nicht verschärft. Und die einzelnen Sektoren wie zum Beispiel Industrie, Verkehr oder Landwirtschaft sollen künftig weniger zur Verantwortung gezogen werden, falls sie ihr Ziel verfehlen. Dabei ist der Blick auf die einzelnen Sektoren aufschlussreich. Er zeigt beispielsweise, wie wichtig Tempo bei der Energiewende ist, um bis 2030 im Bereich mit den meisten CO2-Emissionen 77 Prozent Minderung gegenüber 1990 zu schaffen.
Negativ fallen insbesondere die Bereiche Verkehr und Gebäude auf, weil beide ihre zulässige Höchstmenge an Emissionen im Jahr 2022 überschritten haben. Beim Verkehrssektor ist dies schon zum zweiten Mal in Folge der Fall - und das zuständige Ministerium hat noch immer kein Sofortprogramm vorgelegt, obwohl es dazu laut bisherigem Klimaschutzgesetz innerhalb von drei Monaten verpflichtet wäre. Selbst im optimistischen Szenario des Projektionsberichts verfehlt der Verkehrssekor sein Klimaziel deutlich: um 187 Millionen Tonnen (kumuliert bis 2030). Aber ohne weitere Klimaschutz-Maßnahmen werden auch die Sektoren Gebäude und Industrie die zulässigen Höchstmengen an Treibhausgasemissionen überschreiten.
Expertenrat kritisiert unklare Datengrundlage der Bundesregierung
"Die im Klimaschutzprogramm festgelegten Maßnahmen erfüllen nicht die Anforderungen an ein Sofortprogramm", machte der Vorsitzende des ERK, Professor Hans-Martin Henning, deutlich. Seine Stellvertreterin, Brigitte Knopf, kritisierte die abweichenden Zahlen, die von verschiedenen Ministerien vorgelegt worden seien. Sie verglich die Datenlage der Bundesregierung mit einem 1000-Teile-Puzzle, das allerdings Teile aus drei verschiedenen Puzzlen enthalte. So habe der ERK Probleme, das Klimaschutzprogramm zu bewerten, sagte Knopf.
Tempolimit könnte 6,7 Mio. Tonnen CO2 vermeiden
Für Hanna Fekete vom NewClimate Institute ist es "schmerzlich" zu sehen, dass selbst einfache Maßnahmen wie ein Tempolimit auf Autobahnen nicht durchgesetzt würden. Sogar die Mehrheit der ADAC-Mitglieder ist laut einer aktuellen Umfrage mittlerweile dafür - und laut UBA würde es pro Jahr 6,7 Millionen Tonnen CO2 einsparen.
Die Umsetzung einfacher Einsparmöglichkeiten allein reicht jedoch laut Fekete längst nicht mehr aus: "Das hätten wir vor 20 Jahren machen müssen." Jetzt werde ein großes Paket gebraucht, eine tiefgreifende Transformation.
Einhaltung der Klimaziele 2030 noch möglich
Noch ist es möglich, die deutschen Klimaschutzziele bis 2030 in allen Sektoren zu erreichen - das zeigt das Anfang Juli veröffentlichte Klimaschutzinstrumente-Szenario 2030 (KIS-2030) im Auftrag des UBA. Durch eine Vielzahl an Klimaschutz-Maßnahmen - unter anderem mehr Schienenverkehr, eine Reform der KfZ-Steuer sowie die Beschränkung fossiler Heizungen - wäre eine Reduzierung der Emissionen um 68 Prozent gegenüber 1990 möglich.