Polizeieinsatz in Schweriner Kirchengemeinde: Abschiebeversuch eskaliert
Im Zusammenhang mit einer geplanten Abschiebung ist es in einer Kirchengemeinde in Schwerin am Mittwochmorgen zu einem größeren Polizeieinsatz gekommen. Zwei Männer hatten laut Polizei versucht, sich einer Abschiebung zu entziehen. Der Flüchtlingsrat kritisierte das Vorgehen der Polizei scharf.
Beim Versuch, zwei Männer für eine geplante Abschiebung abzuholen, ist die Polizei am Mittwochmorgen im Schweriner Stadtteil Mueßer Holz auf Widerstand gestoßen. Den Angaben einer Polizeisprecherin zufolge sollten zwei 18 und 22 Jahre alte Männer abgeschoben werden. Die Lage habe sich jedoch anders entwickelt als geplant, denn eine Frau habe versucht, dies zu verhindern, so die Sprecherin. Sie habe sich in einem psychischen Ausnahmezustand befunden. Eine männliche Person sei mit Schnittverletzungen in den Räumlichkeiten von Polizisten angetroffen worden. Beide wurden dem Rettungsdienst übergeben und medizinisch behandelt. Gegen die Frau seien Strafverfahren wegen Bedrohung und Nötigung eingeleitet worden, so die Polizei.
Abschiebung wurde zunächst ausgesetzt
Die Polizei hatte zunächst davon gesprochen, dass die beiden Männer aus dem Irak stammen würden, ihre Angaben aber mittlerweile korrigiert. Nach Angaben der Nordkirche und der Flüchtlingshilfe handelte es sich um eine sechsköpfige Familie aus Afghanistan, darunter auch noch minderjährige Kinder, aus der die beiden volljährigen Söhne nach Spanien abgeschoben werden sollten. Nach Informationen des Flüchtlingsrates wurde die Abschiebung im Zuge des Polizeieinsatzes zunächst ausgesetzt. Die Polizei bestätigte mittlerweile, dass die beiden Männer zunächst nicht abgeschoben worden seien. Über das weitere Vorgehen müsse nun die Ausländerbehörde in Kiel entscheiden. Die Familie habe sich zu diesem Zeitpunkt im Kirchenasyl der evangelischen Petrusgemeinde in einer kleinen Straße am Rande eines Plattenbaugebiets befunden.
Polizeieinsatz mit Rammbock und Kettensäge
Die Polizei hatte die Anwohner gebeten, das Gebiet zu meiden und sprach zunächst von einer Gefährdungslage. Mehrere Streifenwagenbesatzungen, Spezialkräfte und Krankenwagen waren vor Ort. Beamte waren zunächst mit einem Rammbock und einer Kettensäge zu dem Kirchengebäude vorgedrungen, da es den Angaben zufolge Indizien gegeben habe, dass sich die Männer verschanzt hatten. Gleichzeitig sei ein Verhandlungsteam im Einsatz gewesen, das Gespräche führte und nach Angaben der Polizeisprecherin zunächst deeskalierend wirken konnte. In die Wohnung vorgedrungen sei die Polizei erst, als aus den Räumlichkeiten ein "Klirren wahrgenommen" worden war, so die Polizeisprecherin. Bei der anschließenden Durchsuchung seien bei der Mutter, dem 22-jährigen Sohn und der 13-jährigen Tochter am Körper versteckte Messer gefunden worden. Der 22-jährige Sohn habe sich nach bisherigen Erkenntnissen in der Wohnung vor dem Zugriff der Polizei selbst verletzt, so die Polizei. Der Einsatz der Spezialkräfte erfolgte laut Polizei mit "einfacher körperlicher Gewalt", Hilfsmittel oder Waffen seien nicht eingesetzt worden.
Mutter als afghanische Frauenrechtlerin und Journalistin massiv bedroht
Mittlerweile ist klar, dass es sich bei der Frau, die die Abschiebung zu verhindern versucht hatte, um die 47-jährige Mutter der beiden Männer und eine in Afghanistan bekannte Frauenrechtlerin und Journalistin handelt, die in ihrer Heimat massiv bedroht wurde. Nach Angaben der Nordkirche sei der sechsköpfigen Familie über das Aufnahmeprogramm für Afghanistan des Bundesinnenministeriums und des Auswärtigen Amtes eine Aufnahme in Deutschland zugesichert worden. Allerdings habe sich die Visumserteilung verzögert. Da den Angaben zufolge das Leben der Familie in Afghanistan zusehends gefährdet war und sich auch der Gesundheitszustand verschlechtert hatte, war die Familie in den Iran geflohen und von dort aus mit einem spanischen Visum nach Europa gelangt.
Seemann-Katz: "Erschreckendes Signal an Schutzsuchende"
Ulrike Seemann-Katz vom Flüchtlingsrat in Mecklenburg-Vorpommern zufolge sollten die beiden erwachsenen Söhne der Familie auf Amtshilfeersuchen aus Schleswig-Holstein separat nach Spanien abgeschoben werden. Demnach handele es sich um einen Fall des Dubliner Übereinkommens, demzufolge Asylsuchende in dem EU-Staat einen Antrag auf Asyl stellen müssen, in den sie eingereist sind. "Mir fehlen die Worte", sagte Seemann-Katz bei NDR MV Live und bezeichnete das Vorgehen der Polizei als "brutal". Es ist ihrer Ansicht nach das erste Mal, dass das Kirchenasyl in Mecklenburg-Vorpommern von der Polizei gebrochen und diese "rote Linie überschritten" worden sei. Dies habe Auswirkungen auf alle Kirchengemeinden in MV und sei ein "erschreckendes Signal an alle Schutzsuchenden" und "Kirchengemeinden, die Zuflucht bieten". Nicht einmal an Weihnachten dürften sich Geflüchtete in Deutschland sicher fühlen, kritisierte Seemann-Katz.
"Beschämend und mit den Grundsätzen der Menschenrechte unvereinbar"
Die Bischöfin im Sprengel Schleswig und Holstein Nora Steen betonte, eine solche bedrohliche und eskalierende Situation wie am Mittwochmorgen in Schwerin habe die Familie "massiv retraumatisiert" und sei unzumutbar. "Ich bitte alle zuständigen Behörden, den Schutzraum Kirchenasyl zu achten". Die Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche, Dietlind Jochims, sagte: "Hier wurde der Schutzraum einer schwer traumatisierten Familie, die in ihrer Heimat mit dem Tod bedroht wurde, verletzt". Das Kirchenasyl sei seit dem vergangenem Freitag gewährt und der gängigen Praxis entsprechend allen zuständigen Behörden zur Kenntnis gegeben worden.
Was ist Kirchenasyl?
Kirchen können Geflüchtete, denen im Fall einer Abschiebung Verletzungen ihrer Menschenrechte oder sogar der Tod drohen, zeitlich begrenzt in ihren Räumen aufnehmen. In diesem Zeitraum können sich die Betroffenen rechtlich beraten und den Fall noch einmal überprüfen lassen. Bei dem Kirchenasyl handelt es sich um eine traditionell stille Übereinkunft zwischen Kirche und Staat. Seit dem frühen Mittelalter konnten Geflüchtete demnach Schutz in kirchlichen Gebäuden finden - bis ins 16. Jahrhundert hinein. Mit dem Machtverlust der Kirche wurde das Kirchenasyl jedoch immer stärker eingeschränkt. Erst seit den 1980er-Jahren hat sich in Deutschland ein neues Kirchenasyl für Menschen herausgebildet, die abgeschoben werden sollen. Rechtlich festgeschrieben ist das Kirchenasyl aber nicht. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche befanden sich Anfang Dezember bundesweit 643 Menschen im Kirchenasyl.