Lauterbach: "Die Pflegeversicherung ist kein Erbenschutzprogramm"
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zeigt sich 30 Jahre nach ihrer Einführung mit der Pflegeversicherung zu 90 Prozent zufrieden. Aber es gebe auch Reformbedarf, sagt er im NDR Info Interview, und plädiert für einen 1.000-Euro-Deckel beim Eigenanteil.
Die Pflegeversicherung ist in Deutschland vor 30 Jahren eingeführt worden. Am 1. Januar 1995 betrug der Beitragssatz noch ein Prozent, heute sind es 3,6 Prozent. Dennoch müssen Betroffene im Schnitt mehr als 2.800 Euro pro Monat aus eigener Tasche zuzahlen, wenn sie im Pflegeheim betreut werden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärt im NDR Info Interview, was er tun möchte, damit die Pflege nicht zum Armutsrisiko wird, wie er die Pflegeversicherung zu einer solidarischen Bürgerversicherung umbauen möchte - und wie er den Eigenanteil deckeln will.
Herr Minister, was wünschen Sie der Pflegeversicherung zum 30. Geburtstag?
Karl Lauterbach: Viel Glück für die nächsten 30 Jahre und großartig, dass wir dich haben!
Wenn wir einmal zurückblicken: Warum wurde die Pflegeversicherung überhaupt eingeführt?
Lauterbach: Damals war Pflege oft ein Armutsrisiko. Der Mensch, der pflegebedürftig war und keine Verwandten hatte, die ihn pflegen konnten, der musste sich Pflege kaufen und dafür oft alles, was er hatte, abgeben. Von daher hat die Pflegeversicherung viel Gutes getan für unser Land. Viele andere europäische Länder beneiden uns darum. Die Pflegeversicherung bietet jedem die Sicherheit: Wird er pflegebedürftig, bekommt er Pflege mit einer sehr guten Qualität. Man muss nicht die Sorge haben, im Alter nicht versorgt werden zu können, wenn man nicht mehr für sich selbst sorgen kann. Dieses Versprechen der Pflegeversicherung galt damals und gilt heute.
Gleichwohl belasten vor allem die gestiegenen Eigenanteile zunehmend die Betroffenen und ihre Angehörigen, teilweise muss Immobilieneigentum verkauft werden, um sich die Pflege noch leisten zu können.
Lauterbach: Es war nicht so gedacht, dass derjenige, der viel vererben kann, das auch vererbt und die Solidargemeinschaft bezahlt dann die Pflege. Der eigene Anteil für einen Teil der Pflegekosten - die Wohnkosten und die Verpflegung - war von Anfang an so vorgesehen. Man wollte aus der Pflegeversicherung kein Erbenschutzprogramm machen. Mittlerweile ist der Eigenanteil allerdings so stark gestiegen, dass es nicht mehr richtig ist. Das passt so einfach nicht mehr. Pflege droht jetzt wieder ein Armutsrisiko zu werden. Daher müssen wir den Eigenanteil deckeln.
Und wie soll das gehen?
Lauterbach: Ein Vorschlag, den ich selbst auch mitentwickelt habe, sieht vor, dass der Eigenanteil bei 1.000 Euro gedeckelt ist, und zwar bei der stationären Pflege wie auch bei der ambulanten Pflege. Niemand sollte für den eigentlichen Pflegeanteil mehr als tausend Euro pro Monat aufbringen müssen.
Wie soll eine wirkliche Reform der Pflegeversicherung funktionieren, wenn sich die Parteien vor allem am Vierjahres-Rhythmus der Bundestagswahlen orientieren und weniger an der langfristigen Stabilität der sozialen Sicherungssysteme?
Lauterbach: Ich glaube, der Konsens bei den demokratischen Parteien zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung ist da. Wir hätten sogar in der Ampel, die jetzt zerbrochen ist, eine Pflegereform noch hinbekommen. Es unterscheiden sich die Konzepte ein bisschen. Ich persönlich halte das Konzept mit den 1.000 Euro für wichtig. Andere Parteien haben etwas andere Zugänge, aber das Ziel ist immer das gleiche: Pflege muss gute Qualität haben und bezahlbar bleiben.
Was würden Sie denn bei der Pflegeversicherung grundsätzlich anders machen, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten?
Lauterbach: Man muss offen sagen, dass wir in der Pflegeversicherung von Anfang an einen Konstruktionsfehler haben. Diejenigen, die privat pflegeversichert sind, die haben weniger Pflegebedarf. Das sind diejenigen, die einkommensstärker sind und hohe Bildung genossen haben. Die sind weniger häufig pflegebedürftig, da sind die Kosten niedriger. Gleichzeitig hätte man aber mehr Einkommen beizusteuern. Daher braucht die Pflege einen Solidarausgleich. Dieser Solidarausgleich muss so funktionieren, dass wir eine Bürgerversicherung in der Pflege bekommen. Denn dann zahlt jeder nach seiner Leistungsfähigkeit, sodass wir alle in einem Boot sitzen bei der Pflegeversicherung. Das ist aus meiner Sicht wichtig. Das ist gerecht und hilft der Finanzierung.
Heute müssen viele Menschen zum Sozialamt, um Hilfe zu beantragen, damit sie die Pflegekosten stemmen können. Das ist oft mit großer Scham verbunden.
Lauterbach: Man fühlt sich dann plötzlich als jemand, der auf die Sozialhilfe angewiesen ist, die man sein Leben lang vielleicht nicht brauchte. Auf der anderen Seite muss sich aber niemand schämen. Wenn ein älterer Mensch diese Hilfe benötigt, dann muss das entstigmatisiert sein. Diese Menschen haben ein Leben lang Steuern einbezahlt. Weshalb sollten sie nicht am Ende ihres Lebens einen Zuschuss von der Steuer bekommen? Das ist keine Schande.
Über die Sozialämter wird ein großer Teil der Pflegekosten bereits jetzt aus Steuermitteln finanziert. Müsste es künftig nicht noch mehr steuerliche Zuschüsse geben, um die Finanzierung nachhaltig zu sichern?
Lauterbach: Die Pflegeversicherung bezahlt jetzt auch Dinge, die gar nicht die Aufgabe der Beitragszahler sind, beispielsweise die Rentenversicherungsbeiträge von pflegenden Angehörigen. Das ist eine klassische Steuerleistung, und das muss der Steuerzahler zahlen. Das hätten wir auch gemacht. Aber im Rahmen einer extrem engen Auslegung der Schuldenbremse hat die FDP das nicht mitgemacht. Bundesfinanzminister Lindner hat die Schuldenbremse so ausgelegt, dass wir im Prinzip für den Gesundheitsbereich, aber auch für den Pflegebereich, keine Steuermittel für diese versicherungsfremden Leistungen zur Verfügung gehabt haben.
Warum sind die Kosten in den vergangenen Jahren so rapide gestiegen?
Lauterbach: Zum einen wird das Personal in der Pflege besser bezahlt. Dafür haben wir gekämpft. Es war richtig, denn hätten wir die Löhne in der Pflege nicht verbessert, hätten wir in ein paar Jahren nicht mehr genug Pflegekräfte gehabt. Das verteuert natürlich die Pflege. Zum zweiten ist die Zahl der Pflegebedürftigen gewachsen, weil wir jetzt früher pflegen. Wir haben die Pflegegrade eingeführt. Das bedeutet, dass ein Mensch auch Pflegeleistungen bekommt, wenn er noch nicht so stark pflegebedürftig ist. Damit will man langfristig erreichen, dass die Menschen länger in der Pflege leben. Es werden also mehr Menschen in der Pflege versorgt. Und sie leben auch länger in der Pflege, weil eben die Pflege früher einsetzt.
Ein Punkt, den Heimleiter und Pflegeverbände im Hinblick auf aktuelle Herausforderungen anbringen, ist die Schwierigkeit, ausreichend Bewerber für den Beruf des Pflegers und der Pflegerin zu gewinnen. Was müsste hier aus Ihrer Sicht getan werden von der Politik?
Lauterbach: Wir haben ein sehr wichtiges Gesetz durchs Kabinett gebracht: das Pflegekompetenzgesetz. Das erlaubt Pflegekräften mehr von dem, was sie eigentlich können, auch zu dürfen. In Deutschland ist die Lage die, dass vieles, was Pflege kann, nur unter Anleitung eines Arztes gemacht werden kann. Das demotiviert Pflegekräfte. Und das ist auch nicht gerade attraktiv für ausländische Pflegekräfte, die nach Deutschland kommen, weil sie mit der gleichen Ausbildung zum Beispiel in Skandinavien oder in England oder auch in Spanien mehr dürfen als bei uns. Das ist nicht richtig. Daher ist es ein wichtiges Gesetz, das wir zusammen mit den Pflegeverbänden gemacht haben. Die Pflegekompetenz wird künftig besser eingesetzt. Das wird dazu führen, dass sich mehr für diesen Beruf interessieren und dass wir auch attraktiver werden für ausländische Pflegekräfte.
Wie sieht nach 30 Jahren Ihre Bilanz der Pflegeversicherung aus?
Lauterbach: Bei der Pflegeversicherung läuft aus meiner Sicht 90 Prozent gut. Die Pflegeversicherung gewährleistet eine gute Pflege im Alter, unabhängig vom Einkommen und unabhängig von der Herkunft und sie nimmt dadurch eine große Sorge weg. Was schlecht läuft: Die Pflege beginnt wieder ein Armutsrisiko zu werden, weil die Eigenbeteiligung zu hoch ist. Daher sehen wir diesen 1.000-Euro-Deckel vor. Und wir müssen auch Leistungen, die die Pflegeversicherung gar nicht zahlen müsste - zum Beispiel medizinische Leistungen, die in der Pflege gebracht werden, oder auch Rentenbeiträge für pflegende Angehörige - entweder von der gesetzlichen Krankenversicherung oder vom Steuerzahler bezahlen lassen. Und dann ist die Pflegeversicherung auch solide finanziert und wir haben genug Personal.
Das Interview führten Helene Buchholz und Daniel Sprenger.