30 Jahre Pflegeversicherung: Große Nachfrage, leere Zimmer, hohe Kosten
Vor 30 Jahren wurde die Pflegeversicherung in Deutschland eingeführt. Sie sollte Menschen eine würdevolle Pflege sichern. Heimplätze sind begehrt, aber viele Zimmer stehen leer, weil Personal fehlt - und Senioren sind von den hohen Kosten oft überfordert.
"Glück", "Gesundheit" und "Liebe" im Überfluss: Bögen mit diesen Aufschriften liegen in dutzendfacher Ausführung auf dem Tisch, gedruckt auf grünem Karton, in der Farbe der Hoffnung. Alle Seniorinnen und Senioren in der Bastelstunde können sich eine oder mehrere Worte aussuchen und ausschneiden - als Tischdekoration für den Speisesaal. "Geben Sie mir bitte noch einmal das Glück rüber", sagt eine Mitarbeiterin zu einer Seniorin, und reicht den Schnipsel an Annelotte Durner weiter. Die hatte nach dem Glück verlangt. "Das kann man ja immer gebrauchen", sagt die 89-Jährige und macht sich ans Ausschneiden.
Die Bastelstunde im Pflegeheim "Gast- und Krankenhaus" ist nicht nur ein willkommener Zeitvertreib für die Bewohnerinnen und Bewohner. Die Produktion der Deko ist auch aus pflegerischer Sicht bedeutsam, wie Geschäftsführer André Drummond erläutert. "So stärken die Patienten die Beweglichkeit der Finger und der Hand und bleiben länger mobil, auch um sich etwa den Löffel selbst zum Mund zu führen." Von solchen Angeboten gibt es viele in dem Pflegeheim, zum Beispiel auch eine morgendliche Gymnastikstunde, in der mit Bändern und Bällen die Beweglichkeit von Armen und Beinen trainiert wird.
Lauterbach: "Versprechen der Pflegeversicherung gilt damals wie heute"
Erst seit der Einführung der Pflegeversicherung vor genau 30 Jahren, am 1. Januar 1995, haben alle Menschen in Deutschland einen Anspruch auf professionelle Pflege. Die Pflegeversicherung war eine Antwort auf eine immer höhere Lebenserwartung und wurde zur fünften Säule der Sozialversicherung (neben Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung).
"Damals war Pflege oft ein Armutsrisiko. Der Mensch, der pflegebedürftig war und keine Anverwandten hatte, die ihn pflegen konnten, der musste sich Pflege kaufen und musste dafür oft alles, was er hatte, abgeben", erinnert sich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Gespräch mit dem NDR. Die Pflegeversicherung biete seither jedem die Sicherheit, bei Bedarf Pflege mit einer sehr guten Qualität zu bekommen. "Man muss nicht die Sorge haben, dass man im Alter nicht versorgt werden kann, wenn man nicht mehr für sich selbst sorgen kann. Dieses Versprechen der Pflegeversicherung galt damals und gilt heute", so Lauterbach.
Die Pflegeversicherung wird seit ihrer Gründung im Umlageverfahren mit weitgehend paritätisch geteilten Beiträgen finanziert, also von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Im ersten Jahr lag der Beitrag bei einem Prozent, ab 1996 für fast ein Jahrzehnt bei 1,7 Prozent. Ab 2005 wurde ein Zuschlag für Kinderlose eingeführt. Seit Juli 2023 liegt der allgemeine Beitrag bei 3,4 Prozent, je zur Hälfte von Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragen. Zum 1. Januar 2025 steigt der Satz auf 3,6 Prozent. Kinderlose zahlen einen Zuschlag von 0,6 Prozent.
Immer höherer Eigenanteil frisst Erspartes auf
Doch mittlerweile müssen nicht mehr nur die Beitragszahler einen doppelt so hohen Beitragssatz wie in den Anfangsjahren der Pflegeversicherung berappen. Auch diejenigen, die einen Platz im Heim haben, müssen dafür aus eigener Tasche zuzahlen. Der Eigenanteil stieg im Jahr 2024 im bundesweiten Schnitt auf 2.871 Euro - pro Monat wohlgemerkt. Darin enthalten sind auch Unterkunft und Verpflegung.
Die Kosten für Pflege seien in den vergangenen Jahren immens in die Höhe gegangen, sagt Heimleiter André Drummond. "Vor allen Dingen sind die Personalkosten sehr stark gestiegen, was auch sehr gut ist", sagt er. Schließlich müssten die Pflegekräfte für ihre fordernde Arbeit fair bezahlt werden. Hinzu kamen die wegen des Ukraine-Kriegs gestiegenen Energiekosten. Auch Lebensmittel wurden teurer. "Das alles führte dazu, dass wir im letzten Jahr 30 Prozent Kostensteigerung hatten und fürs Jahr 2025 noch mal 20 Prozent gefordert werden." Das gehe hauptsächlich zu Lasten der Bewohnerinnen und Bewohner. "Weil die Leistungen nicht in dem Maße gestiegen sind wie die Kosten der Pflegeeinrichtungen ist das ganze System gekippt", sagt Drummond. Die Zuweisungen aus der Pflegeversicherung steigen zum neuen Jahr etwa nur um 4,5 Prozent. "Früher hatten Bewohner 1.700 Euro Eigenanteil, mittlerweile liegt er bei 3.500 Euro pro Monat im ersten Jahr." In den Folgejahren sinkt der Eigenanteil dank steigender Zuschüsse aus der Pflegekasse.
Über Kosten sprechen die Bewohner untereinander nicht
Annelotte Durner lebt seit drei Jahren im Gast- und Krankenhaus und schätzt die Atmosphäre dort. Das Personal sei überwiegend nett und hilfsbereit und das Miteinander der Bewohner gut. Doch das Thema der Kosten werde bei den Gesprächen der Senioren untereinander meist ausgeblendet. "Eigentlich wird darüber nicht gesprochen", sagt Durner während der Bastelstunde. "Überhaupt nicht, weil das auch so ein bisschen unangenehm ist. Das ist ja so, wie wenn man sie fragen würde: 'Wie viel verdienen Sie?'"
Geschäftsführer Drummond berichtet, dass Rücklagen, die Menschen über ihr Leben lang erwirtschaftet haben, durch die Pflege in der vollstationären Einrichtung mitunter komplett aufgefressen würden. "Wir haben das nicht selten, dass Menschen ihr Eigentum verkaufen müssen, um sich einen Pflegeplatz leisten zu können."
"Keine Erbenschutzversicherung" - aber Lauterbach will Eigenanteil deckeln
Das sei aber durchaus auch so vorgesehen, sagt Gesundheitsminister Lauterbach. "Die Pflegeversicherung ist von Anfang an eine Versicherung gewesen, die nicht das Erbe schützen soll." Die Unterkunft und die Ernährung müsse man im Heim selbst bezahlen, das sei so gewollt. "Mittlerweile ist allerdings der Eigenanteil so stark gestiegen, dass es nicht mehr richtig ist. Pflege droht jetzt wieder ein Armutsrisiko zu werden. Daher müssen wir den Eigenanteil deckeln", so der Minister. Die Pläne der SPD sehen vor, diesen auf 1.000 Euro zu begrenzen, sowohl bei der stationären als auch bei der ambulanten Pflege. Hinzu kommen aber weiterhin die Kosten für Unterkunft und Verpflegung, gleichwohl verspricht sich der Minister eine durchschnittliche Entlastung von 678 Euro im Monat.
Gang zum Sozialamt schwierig für Betroffene
Wer kein Eigentum hat, an dem er oder sie sich bedienen kann, um die Heimkosten zu decken, dem bleibt nur der Weg zum Sozialamt. So wie auch Irmgard Eckert. Sie hat ihr ganzes Leben lang gearbeitet. Doch vor einem Jahr ist sie mit 87 Jahren in die Sozialhilfe gerutscht, weil der Eigenanteil so stark angestiegen war. "Ich kann es nicht bezahlen und musste halt einen Antrag stellen lassen, hier bei der Sozialbehörde", sagt Eckert. "Man fühlt sich nicht gut dabei."
Gesundheitsminister Lauterbach plädiert dafür, sich nicht zu schämen. "Wenn ein älterer Mensch diese Hilfe benötigt, dann muss es entstigmatisiert sein. Diese Menschen haben ein Leben lang Steuern einbezahlt. Weshalb sollten sie nicht am Ende ihres Lebens einen Zuschuss von der Steuer bekommen? Das ist keine Schande."
Lauterbach sieht das Problem eher in der Trennung zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung, das sei von Anfang an ein Konstruktionsfehler gewesen. Die privat Pflegeversicherten, häufig Beamte, hätten oft hohe Bildung genossen und auch mehr verdient. "Die sind weniger häufig pflegebedürftig, da sind die Kosten also niedriger. Gleichzeitig hätten sie aber mehr Einkommen beizusteuern", sagt Lauterbach. "Daher braucht die Pflege einen Solidarausgleich."
Dutzende Zimmer stehen leer, weil das Pflegepersonal fehlt
Trotz hoher Kosten brauchen deutlich mehr Menschen einen Pflegeheimplatz, weil alle immer älter werden. "Wir haben eine sehr hohe Nachfrage. Das sind pro Tag fünf bis zehn Anrufe, sodass wir alle vollstationären Plätze auch jederzeit vergeben könnten", erklärt Heimleiter Drummond. Doch von den 168 Plätzen im Gast- und Krankenhaus sind zum Jahresende nur 127 belegt. Es fehlt schlicht das Personal.
"50 Prozent der Belegschaft in der Pflege müssen Pflegefachkräfte sein", sagt Drummond. Auch wenn Hamburg diese Quote nun auf 40 Prozent gesenkt hat, könne sein Heim nicht für alle potenziell verfügbaren Plätze ausreichend Personal einstellen. Es gebe einfach zu wenig Bewerberinnen und Bewerber.
Erschöpfte Pflegekräfte, zufriedene Senioren
Dass es die Pflegenden nicht leicht haben, bleibt auch den betreuten Seniorinnen und Senioren im Gast- und Krankenhaus nicht verborgen. "Wir sind hier zum Sterben. Und so lange möchte man es einigermaßen schön und liebevoll haben", sagt Irmgard Eckert. "Aber manchmal sind die Pflegekräfte völlig erschöpft. Aber wir Betroffenen können das ja leider nicht ändern."
Die Pflegekräfte seien zuvorkommend und hilfsbereit, meint Annelotte Durner. "Ich finde die leisten eine große Aufgabe." Sie sucht sich noch ein weiteres Wort aus zum Ausschneiden für die Tischdekoration. "Gesundheit nehme ich auch, die ist ja das allerwichtigste!"