Kommunen vor dem Kollaps: Bund und Land bestellen, Gemeinden zahlen
Der Bund bestellt, die Länder organisieren und am Ende zahlen die ohnehin schon klammen Kommunen drauf: Am Beispiel der Ganztagsbetreuung wird deutlich, warum Gemeinden wie Heeseberg in Niedersachsen finanziell zunehmend überfordert sind. Der Städte- und Gemeindebund fordert eine grundlegende Reform.
In der Turnhalle der Grundschule in Heeseberg im Landkreis Helmstedt zeigt sich, was herauskommt, wenn kommunale Haushalte unter Druck sind: Flickschusterei. Die maroden Garagentore, die vor dem Geräteraum montiert sind, werden mit festgeschraubten Metallstreben notdürftig festgehalten. "Hier sieht man, wohin Geldsparen dann auch mal führen kann", sagt Bauamtsleiter Michael Kaminsky. "Wir haben das zusammengenagelt in der Hoffnung, dass sich niemand wehtut."
Auch die Strom- und Wasserleitungen des Gebäudes aus den 1970er-Jahren sind in die Jahre gekommen, die Dämmung fehlt ganz. Die Halle ist nicht mehr zu retten, eine neue muss her - aber wie soll die klamme Gemeinde die bezahlen? Heeseberg ist hoch verschuldet, mit gut 41 Millionen Euro, das macht pro Einwohner gut 11.000 Euro.
Ganztagsbetreuung ist neue, teure Aufgabe
Und die zusätzlich zu schulternden Aufgaben werden nicht weniger, sondern mehr. Die Menge der "Kommunalen Pflichtaufgaben" wächst, etwa durch den Anspruch auf Ganztagsbetreuung ab der ersten Grundschulklasse ab 2026. Bislang ist die Heeseberger Grundschule dafür noch nicht ausgelegt. "Wir haben schlicht zu wenig Platz. In dem bestehenden Raum können wir etwa 20 Kinder beköstigen", sagt Samtgemeindebürgermeister Philipp Ralphs (CDU). "Wenn wir auf Ganztag ausweiten müssen, dann haben wir einfach nicht die nötigen Räumlichkeiten, bis zu 120 Kinder zu versorgen."
Die Schule muss also erweitert werden - für 15 Millionen Euro. Geld, das die Gemeinde nicht hat. Und Geld, das auch nicht vollständig erstattet wird. Weder vom Bund, der die Leistung Ganztagsbetreuung ab Klasse 1 beschlossen hat, noch vom Land, das die Forderung des Bundes in Landesrecht übersetzen muss. Also muss ein Kredit aufgenommen werden. Noch einer. "Wenn wir wie im privaten Bereich übers Leisten-können sprechen würden, dann könnten wir uns das nicht leisten, das muss man klar sagen", sagt Bürgermeister Ralphs.
Städte- und Gemeindebund: Heeseberg ist überall
Immer mehr Kommunen sind wegen steigender laufender Kosten kaum noch handlungsfähig, verschulden sich immer mehr und streichen eigentlich nötige Investitionen und freiwillige Leistungen. "Eine solch katastrophale Lage der Finanzen wie in Heeseberg, die gibt es leider mittlerweile fast überall in Deutschland", sagte Uwe Zimmermann vom Deutschen Städte- und Gemeindebund im NDR Info Interview. "Wir haben das Problem, dass uns die Ausgaben weglaufen und die Einnahmen nicht ausreichen." Allein im dritten Quartal 2024 habe es bei Städten und Gemeinden ein Defizit von 25 Milliarden Euro gegeben.
Bund und Länder müssten ihre Politik grundlegend ändern. "Wenn die Bundespolitik zum Beispiel Rechtsansprüche und Sozialleistungen verspricht und regelt, die auch sehr sinnvoll sind, darf sie aber nicht den Städten und Gemeinden überlassen, das zu bezahlen. So viele Mittel haben wir nicht." Würden also neue Ansprüche oder Sozialleistungen geschaffen, dann müsse der Bund sie auch selbst bezahlen. "Sonst ist auch leider kein Hoffnungsschimmer in Sicht, dass sich die Kommunalfinanzen bessern können", so Zimmermann.
Den Ganztagsanspruch halte der Städte- und Gemeindebund sozial- und familienpolitisch für richtig. "Aber es hilft nicht, wenn der Bund einen Rechtsanspruch regelt, und die Städte müssen ihn erfüllen, weil wir dafür weder die Gebäude noch das Geld noch das Personal haben. So kann es nicht funktionieren."
"Wir haben eine gesetzliche Pflichtaufgabe, der Bund hat den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für die Eltern geschaffen. Wir sind diejenigen, die sagen, wir haben aber kein Geld, wir können diesen Anspruch nicht erfüllen. Das ist bei vielen Aufgaben ein Spagat." Michael Kaminsky, Bauamtsleiter Samtgemeinde Heeseberg
Steuereinnahmen reichen nicht aus
Niedersachsens Städtetag dringt aufgrund solcher Beispiele auf eine bessere Finanzierung der Kommunen. Die europäischen Spielräume für die Schuldenbremse müssten genutzt und die Mittel so verteilt werden, dass alle Ebenen, auch Länder und Kommunen, davon profitieren, erklärten Präsident Jürgen Krogmann (SPD) und sein Stellvertreter Frank Klingebiel (CDU) gemeinsam. Bisher bestritten die Kommunen zwar rund 25 Prozent der Aufgaben, erhielten aber nur rund 14 Prozent der Steuereinnahmen. Das könne auf Dauer nicht funktionieren. "Es kann nicht sein, dass die kommunale Ebene sich immer weiter verschuldet, während Bund und Land sich der Einhaltung der Schuldenbremse rühmen."
Gleichzeitig müssten Bund und Land damit aufhören, den Kommunen immer neue Aufgaben zu übertragen oder bestehende anzureichern, ohne diese auskömmlich zu finanzieren. "Es ist zwingend nötig, die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen neu zu justieren", so Krogmann und Klingebiel.
Bund darf keine Aufgaben an Kommunen übertragen
Im Grundgesetz ist festgelegt, dass durch Bundesgesetz keine neuen Aufgaben auf die Kommunen übertragen werden dürfen - zusätzlich zu den bestehenden im Bereich der Sozialhilfe. "Nur die Länder können Aufgaben auf ihre Kommunen übertragen", teilte ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums mit. Das gelte unabhängig davon, ob es sich um die Erledigung staatlicher Aufgaben aus einem Bundes- oder Landesgesetz handelt. Und ebenfalls entscheidend: "Etwaige Mehrbelastungen bei ihren Kommunen durch diese Übertragung haben die jeweiligen Länder auszugleichen."
Trotz der grundgesetzlichen Finanzverantwortung der Länder sei sich der Bund seiner politischen Mitverantwortung für die Kommunen bewusst. Der Bund unterstützt die Länder mit ihren Kommunen deshalb im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeiten bereits in erheblichem Umfang bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben. Im konkreten Fall der Ganztagsbetreuung etwa erhält Niedersachsen aus Bundesmitteln 248 Millionen Euro.
Kukies: Bund könnte Hälfte der Schulden übernehmen
Bei allen Gesetzen gebe es die Diskussion zwischen den drei Ebenen Bund, Länder, Kommunen, wie die Finanzlasten aufzuteilen sind. "Das ist ja auch gut gelebte Praxis in unserer Demokratie", sagte Bundesfinanzminister Jörg Kukies (SPD) im NDR Info Interview. Der Bund habe ebenfalls enge Finanzierungsbedingungen. "Auch bei uns ist es oft so, dass nicht alle Ausgabenwünsche befriedigt werden können. Von daher ist es völlig klar, dass das immer eine Abwägung zwischen den Ebenen ist. Es ist eine immer wiederkehrende Aufgabe in einer föderalen Finanzverfassung."
Einmalig schlägt Kukies vor, besonders kreditbelasteten Kommunen die Hälfte der Altschulden abzunehmen. So könnten Bund und Länder gemeinsam die Probleme, die über viele Jahre gewachsen seien, lösen. Das gäbe den "betroffenen Kommunen mehr Handlungsspielräume, um die Dächer der Kindergärten zu reparieren, Schulen instandzusetzen und kommunal zu investieren." Nötig für die Schuldenübernahme wäre aber eine Änderung des Grundgesetzes. Das erscheint vor der Bundestagswahl sehr unwahrscheinlich.
So komplex sind die Finanzbeziehungen im Norden
Städte- und Gemeindebund: Moratorium für neue Aufgaben
Uwe Zimmermann vom Städte- und Gemeindebund fordert stärkere Steuerquellen für die Städte und Gemeinden. "Wir brauchen zudem ein Moratorium für neue Leistungen. Wenn der Bund sich Rechtsansprüche und Leistungen ausdenkt, dann sind die wahrscheinlich sehr sinnvoll und richtig. Aber dann muss er auch für die Finanzierung geradestehen und sie nicht den Städten überlassen."
"Wer die Musik bestellt, der muss sie auch zahlen." Uwe Zimmermann, Deutscher Städte- und Gemeindebund
Denn die hätten noch gewaltige Aufgaben vor sich. "Wir haben einen Rückstand im Bestand der kommunalen Infrastruktur, der Gebäude, der Straßen, der Wege, der Brücken, der Turnhallen von fast 190 Milliarden Euro", so Zimmermann. Ein großes Investitionsvermögen werde benötigt, auch um die Klimaschutzziele verwirklichen zu können. Der Vorstoß von Finanzminister Kukies zur teilweisen Übernahme der kommunalen Altschulden durch den Bund hat aus Zimmermanns Sicht keine große Chance, wirklich Gesetz zu werden. Es gebe Städte und Gemeinden, die höchst verschuldet sind, denen man helfen müsse, doch das dürfe nicht den Blick dafür versperren, dass es viel mehr noch darum gehen müsse, die laufenden Ausgaben und auch die Zukunftsinvestitionen tragen zu können.
Bürgermeister kann beim Thema Schule nicht "Nein" sagen
Bildung ist eine dieser Zukunftsinvestitionen, die man in Heeseberg auch nicht ablehnen wolle, selbst wenn die finanziellen Mittel dafür nicht ausreichen. "Es ist keine Möglichkeit zu sagen, es geht nicht beim Thema Schule", sagt Samtgemeindebürgermeister Ralphs. "Wenn wir da nicht rangehen, dann sehe ich den Schulstandort insgesamt gefährdet." Und das wolle man auch nicht riskieren, schließlich möchte man den Menschen vor Ort weiterhin qualitativ hochwertige Bildung anbieten.
Und so wird es wohl auf neue Schulden hinauslaufen. Die dann vielleicht eines Tages vom Bund gekappt und übernommen werden. Doch das ist Ralphs nicht genug. Er begrüße zwar grundsätzlich, dass man sich über kommunale Schulden unterhält. "Ich würde mir aber wünschen, dass wir hier nicht über eine einmalige Entlastung reden, sondern dass man sagt, wir bekommen gewisse Steueranteile, um aus dieser Misere auch dauerhaft rauszukommen."