Geschlossene Psychiatrien: Probleme bei Kontrollen der Kliniken
In geschlossenen Psychiatrien sind externe Kontrollen per Gesetz vorgeschrieben. Doch in Norddeutschland gibt es Probleme mit den Besuchskommissionen und der Dokumentation.
Sie wartet vor einer U-Bahn-Station in Hamburg. Abseits, vor der Mauer. Ein Bein ist angewinkelt, der Fuß drückt fest an die besprayte Wand. Jeans, Cappy, Jacke: Alles schwarz. Sie hört Musik. Guckt sie hoch, dann nur für die Zigarette. Sie ist nicht gut drauf - so wirkt es auf die Vorbeiziehenden. Alles eine Frage der Tarnung, sagt sie. "Die Leute starren mich an, das ist so. Sie machen Fotos in der U-Bahn. Ich habe mir angewöhnt, böse zu gucken. Lieber böse als unsicher."
Die Anfang 20-Jährige nennt sich Marie und möchte anonym bleiben. Ihre Beine, ihre Arme - sie sind übersät von Narben. "Wegen all der Suizidversuche." Ihr letzter Aufenthalt in einer geschlossenen Psychiatrie liegt mehr als ein Jahr zurück. Rekord. So lange war sie noch nie draußen. Etwa zwanzig Aufenthalte in geschlossenen Psychiatrien in Hamburg und Schleswig-Holstein hat sie hinter sich, schätzt sie. "Die sind mit mir umgegangen wie mit einem kleinen Kind, das bestraft wird: Mache ich dies nicht, wird mir das weggenommen, dann darf ich nicht mehr telefonieren oder meine Eltern nicht mehr sehen", erzählt Marie von ihren Erlebnissen.
Expertin: Patienten Rechte entziehen? Nur bei "besonderer Gefahr"
Solche Strafen auszusprechen oder Eigentum zu entwenden: All das müsse Klinikpersonal gut begründen, sagt Dagmar Brosey. Die Professorin für Zivilrecht an der Technischen Hochschule in Köln hat sich auf das Betreuungsrecht spezialisiert. Zudem ist sie Vorsitzende des "Betreuungsgerichtstags" - eines Fachverbands, der sich auf die Rechte von psychisch Erkrankten konzentriert.
"Das Recht auf Eigentum, das Recht auf Information: Das sind alles Grundrechte. Das heißt: Nur, wenn wegen dieser eine 'besondere Gefahr' besteht, darf man Patientinnen und Patienten diese Rechte überhaupt absprechen." Dagmar Brosey
Was genau Betroffenen auf geschlossenen Psychiatriestationen von Kliniken rechtlich zusteht, wenn sie sich selbst oder andere verletzen könnten, schreibt das jeweilige Psychisch-Kranken-Gesetz vor (PsychKG). Das ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Auch die Regelungen zu "Außenkontakten", "Telekommunikation" und "Besuch" unterscheiden sich. Woran sich Klinikpersonal bundesweit im Umgang mit Betroffenen beispielsweise zu halten hat, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vor einigen Jahren festgelegt. Im Zentrum: die sogenannte "Zwangsfixierung".
Zwangsfixierung: Das "letzte Mittel"
Auch die hat Marie immer wieder erlebt, sagt sie. Das heißt: Ihre Arme, Beine und ihr Bauch wurden an fünf Punkten am Bett fixiert. Oft habe man sie auf dem Fixierbett alleine gelassen, erinnert sich Marie und erzählt von einem Raum mit Kameras, aber ohne Personal, das für sie ansprechbar gewesen sei.
Juristisch gilt die Zwangsfixierung als Freiheitsentzug. Der darf nur dann angewandt werden, wenn "mildere Mittel" nicht in Betracht kommen. Und: Wer zwangsfixiert, muss eine Eins-Zu-Eins-Betreuung garantieren. "Das heißt, dass das Klinikpersonal sich in dem Raum des Fixierbettes befinden muss - es sei denn, die Patientin lehnt das explizit ab", erklärt Professorin Brosey. 2018 entschied das Bundesverfassungsgericht zudem: Gehen Zwangsfixierungen länger als 30 Minuten, braucht es eine gerichtliche Entscheidung. Dafür gibt es einen richterlichen Bereitschaftsdienst. Und: Betroffene müssen darauf hingewiesen werden, dass auch im Nachhinein eine gerichtliche Überprüfung möglich ist.
Besuchskommissionen: Beratung und Kontrolle
Betroffene über ihre Rechte zu informieren, das ist eine Aufgabe der Besuchskommissionen. Sie sollen auch geschlossene Psychiatriestationen in Fachkliniken aufsuchen und kontrollieren. Die meisten Kommissionen überprüfen jede Klinik mindestens einmal im Jahr. Wer sich in der Kommission befindet und wie die Besuche genau auszusehen haben - auch das regeln die PsychKG der jeweiligen Bundesländer.
Unangekündigte Kontrollen in Bremen
In Bremen lautet die gesetzliche Regel: Besuche passieren unangekündigt. "Ich finde das wichtig und ein gutes Zeichen. Wir haben ja eine gewisse Kontrollfunktion", sagt Barbara Preiss-Leger. Die pensionierte Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie ist seit 2020 in der Bremer Besuchskommission; ehrenamtlich - wie die meisten Mitglieder.
17 Mitglieder gibt es in Bremen derzeit insgesamt, zudem 20 Stellvertreterinnen und Stellvertreter. Darunter sind Fachärzte, Richterinnen und Betroffenen- und Angehörigenvertreter. "Sie stellen die wichtigen kritischen Fragen", betont Niels Kohlrausch von der Gesundheitsbehörde. Auch er ist Mitglied der Kommission. Die Spannbreite der Aufgaben vor Ort sei groß: "Wir schauen, wie die Stimmung ist und ob Fixierbetten - für Betroffene eine möglicherweise latente Drohung - offen auf dem Flur rumstehen. Wir gehen mit unserem Fragenkatalog zu Verantwortlichen und sprechen natürlich mit Patientinnen und Patienten vor Ort". All das brauche Zeit. Bis zu drei Stunden pro Besuch sind in Bremen möglich. Nicht, weil die Kommissionsmitglieder davon ausgehen, dass alles schief läuft - das zu betonen, ist ihnen wichtig. Sondern, "um im Sinne der Patientinnen und Patienten für Transparenz zu sorgen", sagt Kohlrausch.
SH: Fehlende Kontrolle in Nordfriesland
Besuchskommissionen soll es flächendeckend geben. In Schleswig-Holstein sind dafür die Landkreise und Städte zuständig. Doch im Kreis Nordfriesland gab es von 2020 bis 2022 gar keine Besuchskommission. 2023 wurde die Leitungsposition des Sozialpsychiatrischen Dienstes neu besetzt, schreibt die Pressestelle des Landkreises. Im Zuge dessen sei wieder eine Besuchskommission eingerichtet worden, "die auch regelmäßig zweimal jährlich die Fachklinik besucht und auch besucht hat".
MV und HH: Berichte gelangen nicht an die Öffentlichkeit
In Mecklenburg-Vorpommern war die Kommission in den letzten zehn Jahren zwar vorhanden, schrieb für die Jahre 2012 bis 2015 jedoch keine zusammenfassenden Berichte. Wieso? Weil sich in der Zeit das PsychKG veränderte, erklärt die zuständige Gesundheitsbehörde. Und: Der letzte zusammenfassende Bericht, der dem Landtag Mecklenburg-Vorpommern vorliegt, stammt aus dem Geschäftsjahr 2010/2011. "Aufgrund extrem hoher Arbeitsbelastung wegen der Corona-Pandemie", heißt es aus der Gesundheitsbehörde als Erklärung. Auch in Hamburg ist das ein Problem.
Dort sind die Berichte der Kommission ebenfalls seit Jahren nicht mehr von der Sozialbehörde an die Bürgerschaft weitergeleitet worden. Der Öffentlichkeit zugänglich sind die Berichte damit auch nicht. Die Sozialbehörde in Hamburg nennt ebenfalls Corona als Grund und schreibt auf Nachfrage des NDR, die Zustellung würde "aller Voraussicht nach noch im Juli erfolgen". Doch in Hamburg gibt es weitere Kritikpunkte.
Aufsichtskommissionen kündigen Besuche an
Wie auch viele andere Besuchskommissionen in Norddeutschland kündigt die Hamburger Aufsichtskommission ihre Kontrollen bei den Kliniken vorher an. Damit könnten Fehler "vielleicht bewusst vermieden werden", kritisiert Olga Fritzsche, Sozialpolitische Sprecherin der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft. Die Sozialbehörde entgegne, man brauche vor Ort Ansprechpartner, die der Kommission Zugang zu allen gewünschten Bereichen verschafften. Besuche würden im Regelfall am Vortag angekündigt: "Als unangemeldet gilt ein Besuch auch dann, wenn der Besuch am Vortag angekündigt wird".
Auch im Kreis Pinneberg finden die Besuche angekündigt statt, dort sogar mit rund zwei Monaten Vorlauf. In der Vergangenheit habe man die Besuche nicht angekündigt, das habe sich aber nicht bewährt, heißt es von der zuständigen Pressestelle. Mit dem Vorlauf seien die Besuche "fruchtbarer", weil "dann auch Oberärzte oder der Chefarzt Zeit hatten, um Fragen zu beantworten und auf Anmerkungen zu reagieren."
Besuchskommissionen ohne Betroffenenvertreter
In Hamburg gibt es aktuell noch eine weitere Baustelle. Die Sozialbehörde bestätigt auf Nachfrage des NDR, dass es in der Kommission derzeit keinen Vertreter der Betroffenen gibt. Der letzte Vertreter sei aus privaten Gründen zurückgetreten. Nun kläre man die "direkte Nachbesetzung", so die Sozialbehörde.
Das Niedersächsische Gesundheitsministerium schreibt, Betroffenen- und Angehörigenvertreter in den Besuchskommissionen seien zwar "ausdrücklich erwünscht, aber auch immer davon abhängig, ob sich Personen finden lassen, die zeitlich oder gesundheitlich in der Lage sind, mitzuarbeiten".
Leider unbekannt: Anlaufstellen für Betroffene
Grundsätzlich gilt: Die Kontrollen der Besuchskommissionen können nur stichprobenartig erfolgen: Im Norden wird jede geschlossene Psychiatrie einer Klinik nach Angaben der Behörden ein- bis zweimal pro Jahr kontrolliert. Marie hat während all ihrer Aufenthalte nichts von so einer Kontrollkommission gehört, sagt sie. Dabei sollten deren Mitglieder möglichst über die Besuche hinaus transparent ansprechbar sein.
Nachholbedarf gebe es schließlich auch in der Beratung, betont Dagmar Brosey vom Betreuungsgerichtstag: Die meisten Betroffenen seien sich ihrer Rechte nicht bewusst. "Entscheidend ist der 'Paragraph 327 des FamFG'". Der besagt, dass Betroffene, die untergebracht sind, das Recht haben, für sich juristisch einzustehen. Zuständig hierfür sind die jeweiligen Amtsgerichte. Erste Anlaufstellen für Betroffene gebe es zahlreiche, betont Brosey. Darunter: Verfahrenspflegerinnen von den Gerichten, Patientenfürsprecher und Krankenhausaufsichtsbehörden. Nur müssten die für Patienten einfacher zu finden sein. Ihr Tipp: Das "Bundesnetzwerk unabhängiger Beschwerdestellen Psychiatrie". Das hat auch Kontaktdaten der jeweiligen Besuchskommissionen gesammelt.
Brosey fordert darüber hinaus eine bundesweit vergleichende Forschung. Denn erst, wenn man beispielsweise wisse, wo und warum wie viele Zwangsmaßnahmen angewandt wurden, könne man darüber sprechen, wo sich im Umgang mit Betroffenen auf geschlossenen Psychiatriestationen etwas ändern müsse.