Bezahlkarte für Geflüchtete im Norden: Wie ist der Stand?
Stand: 15.08.2024 10:20 Uhr
Die Bezahlkarte für Geflüchtete ist aktuell immer wieder Gegenstand politischer Debatten in der Migrationspolitik. Wann wird sie flächendeckend in Norddeutschland eingeführt?
Im November 2023 hatten die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder gemeinsam mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beschlossen, eine Bezahlkarte für Asylsuchende einzuführen. Diese sollen einen Teil der ihnen zustehenden Leistungen nicht mehr in Bargeld, sondern als Guthaben auf die Bezahlkarte erhalten. 14 der 16 Bundesländer haben sich zusammengetan, um gemeinsam einen Dienstleister für die technische Betreuung der Bezahlkarte zu beauftragen. Mecklenburg-Vorpommern und Bayern gehen bei der Vergabe eigene Wege.
Hamburg: SocialCard für Asylsuchende bereits im Einsatz
Hamburg hat die Bezahlkarte als erstes Bundesland Mitte Februar 2024 in einem Pilotprojekt eingeführt. Sie nennt sich SocialCard und wird seither an Asylbewerber ausgegeben, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung des Landes leben. Wer in eine eigene Wohnung zieht, kann die SocialCard behalten. Mitte August waren 2.130 Asylsuchende in Hamburg im Besitz einer Bezahlkarte. Trotz der Klage einer schwangeren Frau vor dem Hamburger Sozialgericht hält Hamburg an der Bezahlkarte fest. Das Gericht hatte in einem Eilverfahren entschieden, dass die Frau mehr Geld bar abheben können müsse, da sie aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation auch mehr Leistungen erhalte. Die Stadt hat angekündigt, Beschwerde gegen das Urteil einzulegen und sieht das Modell Bezahlkarte dadurch nicht grundsätzlich gefährdet.
In einem anderen Fall hatte das Landessozialgericht, also eine höhere Instanz, die Klage eines Asylbewerbers abgewiesen. Er erleide durch die Bargeld-Begrenzung auf 50 Euro keine wesentlichen Nachteile. Grundsätzlich erhält jeder Erwachsene 185 Euro im Monat. Leistungen für Kinder werden auf die Karte eines Elternteils gutgeschrieben. Die finale Ausgestaltung der Bezahlkarte liege aber bei der länderübergreifenden Arbeitsgemeinschaft, zu Details konnte die Stadt nichts sagen.
Mecklenburg-Vorpommern: Möglicherweise schnellerer Start
Die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern erhofft sich durch den Alleingang beim Vergabeverfahren insbesondere ein schnelleres Verfahren. Laut einer Sprecherin ist man derzeit im Zeitplan, das Vergabeverfahren werde voraussichtlich im dritten Quartal des Jahres - also spätestens bis Ende September - abgeschlossen sein. Inhaltlich wolle sich das Land ansonsten aber an die mit Bund und Ländern vereinbarten Mindeststandards halten, darunter die Beschränkung von Barauszahlungen. Ebenso werden Überweisungen ins Ausland nicht möglich sein. Ansonsten soll die Karte bundesweit gelten.
Niedersachsen: Noch kein landesweiter Einführungstermin
Auch Niedersachsen beteiligt sich an der länderübergreifenden Arbeitsgemeinschaft, die sich um die Einführung der Bezahlkarte kümmert. Aufgrund eines Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer in Baden-Württemberg sei derzeit nicht absehbar, wann die Bezahlkarte flächendeckend eingeführt werden könne. Ein unterlegener Bieter hatte geklagt. Hannover hat die Bezahlkarte als erste Kommune im Dezember 2023 eingeführt. Bei der sogenannten SocialCard in Hannover gibt es keine Begrenzung bei der Bargeldabhebung. Die Stadt sieht ihr Modell durch aktuelle Gerichtsprozesse bestätigt. Zudem erhalten in Hannover auch Menschen in der Grundsicherung, die kein deutsches Konto haben, ihre Leistungen über die SocialCard.
Schleswig-Holstein: Bezahlkarte schnellstmöglich einführen
In Schleswig-Holstein werde gerade intensiv daran gearbeitet, die Bezahlkarte schnellstmöglich einzuführen, heißt es auf Nachfrage des NDR. Sobald das Vergabeverfahren rund um die Betreiberfirma abgeschlossen ist, will Schleswig-Holstein die Bezahlkarte zunächst in einer Pilot-Kommune und dann schrittweise flächendeckend einführen. Die Landesregierung nehme die Klagen und entsprechende gerichtliche Entscheidungen zur Bezahlkarte zur Kenntnis. Mögliche Folgen würden mit den anderen Ländern beraten. Bargeldabhebungen sollen mit der Karte möglich sein. Die schwarz-grüne Koalition war sich aber bislang noch uneins über die maximale Auszahlungshöhe.
Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Bezahlkarte
Laut dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist die Bezahlkarte für Geflüchtete gedacht, die sich noch im Asylverfahren befinden. Die konkrete Ausgestaltung obliegt aber den Ländern. In Hamburg soll die Karte nur für Menschen verpflichtend sein, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung leben. In Hannover gilt sie auch für Asylsuchende, die bereits in einer eigenen Unterkunft leben. Dort bekommen auch andere Menschen, die kein Konto haben, Leistungen über die sogenannte SocialCard. Dazu gehören Empfänger der Grundsicherung.
Der bundesweite Start ist für Herbst 2024 geplant. Doch der Start verzögert sich gerade wegen einer juristischen Auseinandersetzung um die Auftragsvergabe für den Dienstleister der Bezahlkarte. Einige Kommunen in Deutschland haben die Bezahlkarte bereits eingeführt. Hamburg hat als erstes Bundesland ein Pilotprojekt zur Bezahlkarte gestartet. Auch in Hannover gibt es sie schon.
Die Bezahlkarte hat eine guthabenbasierte Debit-Funktion, sie funktioniert also ohne Konto. Sie kann nicht im Ausland oder für Überweisungen verwendet werden. Auch Überweisungen "von Karte zu Karte" sind nicht möglich. Grundsätzlich soll sie bundesweit gelten, die Länder können sie aber regional und für bestimmte Branchen einschränken, etwa Glücksspiel. Die Karte kann in digitaler Form für das Smartphone oder als physische Karte ausgestellt werden. Das Geld wird jeden Monat automatisch auf die Karte geladen. Ein persönliches Erscheinen bei den Behörden ist nicht mehr nötig. Optisch sehen die Karten aus wie jede andere Bezahlkarte - der Flüchtlingsstatus der Nutzer ist beim Bezahlen also nicht erkennbar. Eine Kooperation mit dem Kartenanbieter Visa soll eine hohe Akzeptanz der Karte gewährleisten. Die Ausgaben werden von den Behörden nicht überprüft.
Wie viel Geld in einem bestimmten Zeitraum mit der Bezahlkarte abgehoben werden kann, ist der Behörde überlassen, die für die Unterstützung der Geflüchteten zuständig ist. Ein Großteil der Bundesländer hatte sich Ende Juni darauf verständigt, eine Bargeld-Obergrenze von 50 Euro pro Person und 10 Euro pro Kind einzuführen. Allerdings hat das Hamburger Sozialgericht einer schwangeren Klägerin Recht gegeben, dass sie mehr Geld abheben können sollte, da sie aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation auch mehr Geld bekommt. In Hannover gibt es dagegen kein Limit für die Bargeld-Auszahlung.
Mit der Bargeld-Obergrenze soll verhindert werden, dass Geld ins Ausland geschickt wird - unter anderem an potenzielle Schleuser. Deswegen können mit der Karte auch keine Überweisungen ins Ausland getätigt werden. In Hamburg können Asylbewerber in zahlreichen Drogerien und Discountern kostenlos Geld abheben. Falls Asylbewerber arbeiten, können sie ein Konto eröffnen und über das selbst verdiente Geld frei verfügen.
Befürworter der Bezahlkarte hoffen, dass sich der Verwaltungsaufwand der Kommunen reduzieren wird. Bislang mussten diese das Geld händisch jedem einzelnen Asylbewerber oder auch Menschen, die beispielsweise subsidiären Schutz genießen, in bar auszahlen. Die Geflüchteten mussten dafür persönlich mit einem Berechtigungsschein beim zuständigen Amt erscheinen und oft in langen Schlangen stehen. Ebenso soll die Schleuserkriminalität bekämpft werden. Einige Politiker setzen auch darauf, dass auf diese Weise weniger Menschen nach Deutschland kommen. Experten bezweifeln aber, dass die Bezahlkarte einen entsprechenden Effekt haben könne.
Menschenrechtsorganisationen und Wohlfahrtsverbände halten die Bezahlkarte für diskriminierend. Sie beobachten Einschränkungen für die Betroffenen, zum Beispiel beim Einkauf in kleinen Geschäften, die keine Kartenzahlung akzeptieren. Ebenso kritisieren sie die Bargeld-Obergrenze. Sie behindere etwa den Einkauf auf günstigen Flohmärkten. Auch Online-Einkäufe sind zum Teil begrenzt. Es ist aber möglich, entsprechende Guthabenkarten für Online-Shops im Supermarkt zu kaufen und dann mit diesen im Internet einzukaufen. Kritiker glauben auch, dass die Bezahlkarte hohen Verwaltungsaufwand mit sich bringt und viel Geld kostet.
Der rechtliche Anspruch auf ein "Taschengeld" zur Deckung des "notwendigen persönlichen Bedarfs" richtet sich nach Alter und Lebenssituation der Asylbewerber. In der Erstaufnahme bekommen sie gemäß dem Asylbewerberleistungsgesetz 204 Euro für den persönlichen Bedarf. Bett und Mahlzeiten werden gestellt. Kommen sie dann in eine Unterkunft, in der sie sich selbst versorgen müssen, erhalten Alleinstehende 460 Euro. Menschen in Partnerschaften und Kinder erhalten weniger Geld. Teilweise erhalten Asylbewerber auch Sachleistungen wie Essen oder Kleidung, auch dann erhalten sie weniger Geld.
Laut Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales gilt die Bezahlkarte nur für Menschen, die sich im Asylverfahren befinden. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lag die Verfahrensdauer von Asylverfahren mit Antragstellung in den letzten zwölf Monaten bei durchschnittlich 4,6 Monaten. Diese machen nach Angaben der Behörde rund 75 Prozent aller Verfahren aus. Die Gesamtverfahrensdauer der Erst- und Folgeanträge für das gesamte Bundesgebiet betrug im Zeitraum Januar bis Juli 2024 im Schnitt acht Monate. Geld nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten Asylbewerber außerdem nicht mehr, wenn Sie im Asylverfahren einen Schutzstatus bekommen haben, selbst genügend Geld verdienen oder Bürgergeld vom Jobcenter erhalten.
In Hamburg beklagen Asylbewerber nach sechs Monaten Pilotprojekt, dass sie nur in großen Geschäften problemlos einkaufen können. Viele kleine Geschäfte bieten wegen der hohen Kosten keine Kartenzahlung an. So etwa kleine Supermärkte, die zum Beispiel arabische Lebensmittel verkaufen. Teilweise habe die Karte auch in Geschäften nicht funktioniert, in denen Kartenzahlung eigentlich möglich ist, teilweise sei die SocialCard abgelehnt worden. Ein weiteres Problem sei, dass viele kleine Geschäfte einen Mindestumsatz für Kartenzahlung verlangen. Geflüchtete würden aber häufig eher kleine Einkäufe tätigen, da sie ohnehin nicht viel Geld zur Verfügung haben. Außerdem kostet das Abheben der 50 Euro am Automaten 2 Euro Gebühr. Asylbewerber berichten auch von technischen Schwierigkeiten und dass es schwer sei, Hilfe zu erhalten. Durch die Bargeld-Obergrenze fehle Geld für den Einkauf in Sozialkaufhäusern oder auf Flohmärkten.
Tobias Heidland, Experte für Migration und Kapitalströme in Entwicklungsländern des Instituts für Weltwirtschaft aus Kiel, betont, dass es nicht richtig sei, dass Menschen wegen hoher Sozialleistungen in Deutschland ihr Heimatland verlassen würden. Migration sei sehr komplex und durch einfache Push- und Pull-Faktoren, also schlechte Umstände in der Heimat und gute Umstände im Aufnahmeland, nicht zu erklären. "Es wird zu häufig mit einem Verwaltungsblick auf das Thema geschaut. Dass Veränderungen an einem Paragraphen oder Gesetz in Deutschland einen großen Effekt haben würden, halte ich in vielen Fällen nicht für wahrscheinlich, weil die Information gar nicht zu den Migrant*innen durchsickert."
Die Bezahlkarte ist laut Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) "ganz bestimmt kein Gamechanger". Eine Chipkarte zum Einkaufen würde es zwar Geflüchteten etwas unbequemer machen, Geld in die Heimat zu schicken, dies jedoch nicht verhindern. Niklas Harder, Integrationswissenschaftler des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), sagte bei NDR Info, es sei gar nicht belegbar, dass Geld aus Sozialleistungen ins Ausland überwiesen werde. "Die Begründung scheint mir auf aufgebauschten Anekdoten zu beruhen. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, die sagen, das sei ein verbreitetes Phänomen." Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sagt, angekommene Asylbewerber würden selten Geld weiterleiten. "Wir beobachten, dass es erst zu Geldzahlungen kommt, wenn die Menschen hier arbeiten und Geld verdienen." Für die Migrationsentscheidung werde das keine Rolle spielen, das sei "Wunschdenken".
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