NachGedacht: Vom Wert der Dinge
Während die einen Milliarden von Dollar vernichten, sammeln die anderen noch dankbar den letzten Dreck, findet Lena Bodewein in ihrer Nachgedacht-Kolumne.
35 Milliarden Dollar verlieren - unvorstellbar. Danach immer noch 298 Milliarden besitzen - noch unvorstellbarer. Für Elon Musk: normal. Seit sein Kumpel, der US-Präsident, am lustigen Zollrad dreht, werden Vermögen vernichtet, Aktienkurse rauschen in die Tiefe, goldene Kälber stürzen sich suizidal in den Abgrund, man könnte ganze Hochöfen befeuern, wenn diese Summen in Dollarnoten in Flammen aufgingen. Trotzdem werden Musk, Bezos und Co nicht in der Ecke sitzen und heulend ihr bitterarmes Schicksal beklagen, sondern weiter ihre glänzenden, überdimensionierten Phallussymbole ins Weltall schicken.
Auf den Straßen von Neu-Delhi
Rina dagegen schiebt ihr rostiges Lastenrad ab morgens sieben über die Straßen Neu-Delhis, hinter ihr rauscht der Verkehr, es staubt und stinkt nach Abgasen, Abwasser und Abfall. Und genau den sammelt Rina auf: Jedes Fitzelchen Papier, verbogene Kronkorken, Chipstüten, kaputte Plastikflaschen, Drahtstückchen - sie nimmt zwei Pappen und schiebt im Rinnstein das zusammen, was für Außenstehende wie Dreck und Müll aussieht, für sie aber ein Schatz ist. In einer grob zusammengezimmerten Holzkiste sammelt sie ihre Beute, schiebt sie Stunde um Stunde weiter, während um sie herum die Autos hupen, die Mopeds rattern, manchmal auch eine Kuh stoisch durch den Verkehr stakst.
Rina sammelt, sortiert, schwitzt hinter Maske und Tüchern und am Ende des zwölf-Stunden-Tages bekommt sie mit Glück 80 Rupien, das sind 80 Cent. Davon muss sie fünf Kinder in die Schule schicken und die Krankenhausrechnungen für ihren Mann zahlen, der im Koma liegt. Sie hält dabei noch die Straßen Delhis sauber und sorgt für Recycling. Die Frau verdient doch eine Medaille! Sie hätte nun wirklich allen Grund, in der Ecke zu sitzen und ihr wahrlich bitterarmes Schicksal zu beklagen - macht sie das? Nein, sie schiebt immer wieder von neuem los.
Praktikumsempfehlung für einige aus dem Milliardärsclub
Und an der Stelle frage ich mich: Wer sollte die Milliarden verdienen? Natürlich ist die Welt nicht gerecht, darauf will ich gar nicht hinaus - obwohl: ein paar Momente über den Wahlerfolg der Linken sinnieren und vermuten, dass vielleicht eine Menge Menschen einen gewissen Frust über die Ungleichheit in der Gesellschaft verspüren - aber das lenkt jetzt nur ab.
Wer jeden schiefen Nagel, den er findet, zu schätzen weiß - zu schätzen wissen muss - bringt mehr Hingabe und Verantwortung in die Welt als alle asozialen Milliardäre zusammen. Wenn jemand Firmen leitet, der es sich leisten kann, 35 Milliarden Dollar zu verlieren. Oder 44 Milliarden für ein hassschleuderndes Netzwerk zu zahlen (nur, um beim Beispiel Musk zu bleiben, das gilt auch für einige andere aus dem Milliardärsclub), dann habe ich Angst davor, dass er den Wert der Dinge nicht erkennt. Dass er den Wert von Arbeit nicht erkennt, von Mühen und vom Bücken für den kleinsten Nagel. Dann würde ich den gerne mal ins Praktikum schicken. Zu Rina, auf die staubigen Straßen von Delhi.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie diese Kolumne geben die persönliche Sicht der Autorin wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sie sich bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.
