Māris Sirmais: "Musik, die zum Herzen und zur Seele spricht"
Der lettische Staatschor begeistert Publikum weltweit mit Klangvielfalt und künstlerischer Exzellenz. In seinem Repertoire verbindet er die Tradition des Singens mit der Innovation moderner Chormusik.
Ein Staatschor ist eine repräsentative Institution, insbesondere wenn sich ein Land seine Unabhängigkeit so hart erkämpfen musste wie Lettland. Mit dem entsprechenden Stolz bezeichnet sich der State Choir Latvija selbst als "eines der bedeutendsten Denkmäler des lettischen Kulturlebens und der Geschichte". Zudem ist der Chor mit aktuell 60 Mitgliedern nicht nur ein herausragender Protagonist der so reichen und vielfältigen lettischen Chorszene, sondern auch der größte Profi-Chor im gesamten Baltikum.
Von der Filmmusik zu "Das Parfum" bis Richard Strauss
Ob mit der Einspielung des Soundtracks zu Tom Tykwers Film "Das Parfum", die gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern und Simon Rattle entstand, ob live im Lincoln Center in New York oder beim renommierten Luzerne Festival - der State Choir Letvija begeistert auf vielfältigste Weise Publikum in aller Welt. Eine seiner Konzerttourneen führte den Chor 2019 auch nach Norddeutschland. Bei dem Konzert mit der lettischen Organistin Iveta Apkalna erklang in der Konzertkirche Neubrandenburg unter anderem das Stück "Evening Hymn" von Henry Balfour Gardiner.
"In diesem Konzert waren nicht nur viele Deutsche, sondern auch viele Letten", erinnert sich Māris Sirmais, der Chefdirigent des State Choir Latvija. "Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Blumen bekommen. Das ist bei uns nämlich Tradition: Das Publikum kommt mit Blumen zum Konzert. Ich fühlte mich, als sei ich zuhause in Lettland. Das war so schön." Māris Sirmais, inzwischen auch Professor für Chorleitung in Riga, ist seit 1997 Chefdirigent des Staatschores Letvija.
Ein Traditionschor in Zeiten politischer Umbrüche
Sirmais erinnert sich, dass die erste Zeit mit dem Chor ein harter Test gewesen sei. Anfang der 1990er Jahre brach die Sowjetunion zusammen und Lettland erklärte - zum zweiten Mal in der Geschichte des Landes - seine Unabhängigkeit. Eine solche Zeit der politischen Umbrüche bringt immer auch große gesellschaftliche Veränderungen mit sich, und ist deshalb zugleich auch eine gute Zeit für Chancen und neue Möglichkeiten. Gegründet 1942, war der Chor gewohnt "große Vokalwerke mit Orchester zu singen: Messen, Oratorien, Kantaten, Requien - alle mit instrumentaler Begleitung", erklärt Sirmais. "Erst in den letzten zehn, zwanzig Jahren hat der Chor mehr A-cappella-Programme aufgeführt. Das hat ihn zu einem besonders fein abgestimmten Klangkörper gemacht." Weiterhin sind die Sängerinnen und Sänger zum Teil selbst Dirigent*innen und Instrumentalist*innen. Sie haben daher "eine andere ästhetische Vorstellung als reine Vokalisten. Sie verstehen den Dirigenten nicht nur durch seine Handbewegungen, sondern durch die zarteste Bewegung der Finger und der Augen. Deshalb ist das Ensemble so gut vertraut mit weltbekannten, großartigen Dirigenten und Orchestern", schwärmt Sirmais.
Chorsingen hat in den baltischen Ländern Tradition. Es ist kein Zeitvertreib oder purer ästhetischer Genuss, sondern identitätsstiftend. Sirmais sagt: "Die rasante Entwicklung des Chorgesangs begann bei uns 1873, als das erste Lettische Liederfest stattfand. Heute heißt es ‚Latvian Song- and Dance Festival‘. Es findet alle fünf Jahre statt und verzeichnet bis zu 70.000 Besucherinnen und Besucher. Viele Chöre bereiten sich ganze drei Jahre lang darauf vor! Im vergangenen Jahr hat das Festival seine 27. Ausgabe gefeiert." Auch in den Traditionen rund um die Mittsommernacht sind Tanz und Gesang zentrale Elemente. Das Lied "Uguns rituāls" nimmt in seinem Text Bezug auf alte Feuerrituale der baltischen Staaten. Der State Choir Latvija hat es für sein 2021 erschienenes Album "Aeternum" eingesungen.
"Aeternum": Musik zum 100. Geburtstag Lettlands
2008 erhielt Māris Sirmais die Auszeichnung des lettischen Ministerkabinetts für kulturelle Verdienste und den Titel "Rigas Bürger des Jahres", weil er den Namen Lettlands in der ganzen Welt bekannt gemacht hat. Zudem ist er in punkto Gesangsnachwuchs besonders kreativ geworden, denn auch eine Tradition wie das Chorsingen will am Leben gehalten werden. Für "Aeternum" hat Sirmais mit Jānis Aišpurs zusammengearbeitet: ein junger Musiker und Komponist, Jahrgang 1980, der in vielen Genres unterwegs ist, auch in der Rockmusik. Lange Jahre hat er in einem Jugendchor gesungen, den Māris Sirmais geleitet hat. Aišpurs‘ Stück "Piesaukšana" ist die Vertonung eines bekannten Gedichts des lettischen Volksdichters Ojars Vacietis. Es erzählt von dem unzerbrechlichen Rückgrat einer Nation.
Damit passt "Piesaukšana" inhaltlich ganz hervorragend auf in die Tracklist von "Aeternum". Denn auf der CD finden sich Chorwerke, die alle von verschiedenen lettischen Komponisten für genau dieses Album und einen ganz besonderen Anlass komponiert wurden: den 100. Geburtstag Lettlands. "Unser Ziel war es nicht nur große, herrliche Konzerte zu geben, sondern auch ein umfassendes Abbild unserer Kultur zu liefern", erklärt Māris Sirmais. "Die Idee war, allen lettischen Komponisten die Möglichkeit zu geben, ein Lied für Lettland zu schreiben. Das führte zu 80 neuen Kompositionen für gemischten Chor und unsere CD ‚Aeternum‘ enthält eine Auswahl dieser Arbeiten. Das Projekt gipfelte in einem großen Konzert in der Lettischen Nationalbibliothek in Riga, bei dem drei der insgesamt vier lettischen Profi-Chöre auftraten."
"Sempiternam": Eine irisch-lettische Zusammenarbeit
Neben dem "Latvian Song- and Dance Festival" ist das "International Sacred Music Festival" ein weiteres bedeutendes Chorfestival. Und neben seiner Unabhängigkeitserklärung war die Aufnahme in die Europäische Union eine weitere bedeutende Zäsur in der Geschichte Lettlands. Beide Ereignisse verbinden sich gewissermaßen auf dem 2022 erschienenen Album "Sempiternam" des State Choir Letvija.
Das "International Sacred Music Festivals", das von August bis Anfang September stattfindet, widmet sich der Kirchenmusik und will zeigen, wie wichtig und wertvoll geistliche Kompositionen sind. Hier kommen nicht nur etablierte Werke zur Aufführung, es gibt auch zahlreiche Uraufführungen - ebenso auf "Sempiternam". Es ist ein Album, das ausschließlich Werke der irischen Komponistin Rhona Clarke versammelt. "Unser erstes Treffen war," erinnert sich Sirmais, "als Lettland in die Europäische Union aufgenommen wurde: am 1. Mai 2004. Bei einem Konzert in Irland präsentierten wir Stücke verschiedener europäischer Komponisten. Irland selbst wurde von der Komponistin Rhona Clarke vertreten, die ihr Werk dem lettischen EU-Beitritt gewidmet hatte. Unser Chor hat bei ihr einen solch guten Eindruck hinterlassen, dass einige Jahre später ‚Sempiternam‘ entstanden ist. Es besteht aus älteren Werken von Rhona Clarke und einigen, die sie extra für den State Choir Latvija geschrieben hat - so auch das ‚Requiem‘."
Māris Sirmais: "Musik, die zum Herzen und zur Seele spricht"
Kirchenmusik und klassische Chormusik vergangener Epochen sind durchaus Teil seines Oeuvres. Zugleich aber fällt auf: Der State Choir Latvija hat ebenso einen Schwerpunkt auf zeitgenössischen Werken. Chefdirigent Māris Sirmais legt dabei vor allem Wert auf die Musik an sich. Die Ausgewogenheit im Repertoire seines Chores soll sich nicht durch verschiedene Kompositionstechniken und -epochen auszeichnen, sondern Musik präsentieren, "die zum Herzen und zur Seele spricht. Ich bin nicht interessiert an Fachbegriffen oder technischem Singen. Vielmehr möchte ich das musikalische Bild sehen, das wir mit jedem einzelnen Sänger und jeder einzelnen Sängerin im Chor malen. Was mich am meisten interessiert ist nicht Gehabe, Arroganz, Coolness oder gar Gleichgültigkeit, sondern demütiges, leidenschaftliches musikalisches Können."