NDR Sachbuchpreis 2021: Das waren die Bücher auf der Longlist
Mit dem NDR Sachbuchpreis wird das beste in deutscher Sprache verfasste Sachbuch, das sich zukunftsrelevanten Fragen widmet, ausgezeichnet. Zehn Bücher standen auf der Longlist für den NDR Sachbuchpreis 2021.
Die Bücher auf der Longlist behandeln vielseitige Themen von Biodiversität, Klimawandel und Nachhaltigkeit über Fragen der Gleichstellung, Rassismus und Antisemitismus bis hin zu Verschwörungsmythen und Fake News. Ausgezeichnet wird eine herausragende Autorinnen- oder Autoren-Leistung, die aus gesellschaftlicher, kultureller oder wissenschaftlicher Perspektive Themen für ein großes Publikum erschließt und für breitere Debatten öffnet. Die Historikerin Annette Kehnel bekam den NDR Sachbuchpreis für ihr Buch "Wir konnten auch anders - Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit" am 7. November in Göttingen.
"Alle drei Tage" von Laura Backes und Margherita Bettoni
Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann, eine Frau umzubringen. Alle drei Tage wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts ist auch bei uns ein ernsthaftes gesamt-gesellschaftliches Problem. Als Familientragödien, Beziehungstaten oder Eifersuchtsdramen verharmlost, bleiben viele Frauenmorde verborgen und verdecken die patriarchalen Macht- und Gewaltmuster, die sich tief durch die Gesellschaft ziehen. "Alle drei Tage" ist ein im positiven Sinne erschreckendes, aufwühlendes, berührendes und bereicherndes Buch über Femizide, also Morde an Frauen aufgrund ihres Geschlechts oder wegen bestimmter Vorstellungen von Weiblichkeit.
"Einspruch" von Ingrid Brodnig
Was tun, wenn Freunde, Verwandte oder Bekannte mit Aussagen kommen, die ins Reich der Verschwörungsmythen und Fake News gehören? Wie mit bizarren oder gar gefährlichen Theorien in den sozialen Medien umgehen? Das Gefühl der Überforderung wächst: Wieso glauben die mir nicht einmal dann, wenn ich offenbar unsinnige Behauptungen mit Fakten kontern kann? "Einspruch" ist ein sehr alltagsnahes Buch, das jeder lesen, vielleicht sogar zum Nachschlagen bei sich tragen sollte. Es bietet Strategien für eine kluge Diskussionsführung und Tipps für Formulierungen, die auch in emotionalisierten Diskussionen wirken.
"Wer wird überleben?" von Lothar Frenz
Wir stehen vor einem historischen Wendepunkt in unserem Verhältnis zur Natur: Mit der Corona-Pandemie sind zum ersten Mal die Auswirkungen der Arten- und Biodiversitätskrise für uns als Spezies Mensch größer als die globalen Folgen des Klimawandels. Lange schon haben Artenschutzexperten gewarnt, dass ein solches Virus durch den ausrottenden Handel mit Wildtieren entstehen wird. Haben wir diese Wucht, den kommenden Wandel noch im Griff? "Wer wird überleben?" ist ein herausragend kenntnisreich und zugänglich erzähltes Buch über die Bedeutung der Biodiversitätskrise, ihre Zusammenhänge mit dem Klimawandel - und die fundamentalen Folgen für unser menschliches Selbstbild und Handeln.
"Der verkaufte Feminismus" von Beate Hausbichler
Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung: Der Konsumkapitalismus hat schon früh erkannt, dass die Anliegen der Frauenbewegung für ihn nützlich sind. Der markttaugliche Feminismus verlagert die Arbeit: weg von politischen Forderungen für alle, hin zur Arbeit an und für sich selbst. Das Buch zeigt auf, wo Feminismus in dicken Lettern draufsteht, obwohl zuletzt nur Selbstoptimierung, Selbstdarstellung und Konsum drinstecken. "Der verkaufte Feminismus" ist eine gründliche Analyse zum Marktwert von Feminismus in Werbung, Medien und Business. Engagiert und unverkrampft. Ein Crashkurs auch für Neulinge in Sachen Feminismus. Lesespaß durch brillanten Schreibstil.
"Offene Grenzen für alle" von Volker M. Heins
Offene Grenzen für alle? Alle sollen überall hinfahren dürfen, um zu arbeiten und zu leben, wo es ihnen gefällt? Das wirkt illusorisch, unrealistisch, ja schlichtweg gefährlich. Nichts könnte dem Zeitgeist mehr widersprechen. Das Buch zeigt eindrücklich, was sich ändern müsste und welche Voraussetzungen zu schaffen wäre, damit eine Welt mit offenen Grenzen Wirklichkeit werden könnte. "Offene Grenzen für alle" ist eine Utopie, aber sie ist notwendig: klug und provokant richtet Volker M. Heins den Blick auf das Thema Migration, Bewegungsfreiheit und das "Recht, woanders zu sein". Ganz offenbar wurde zu diesem kontroversen Thema längst noch nicht alles gesagt oder gedacht.
"Wir konnten auch anders" von Annette Kehnel
Teilen, Tauschen, Wiederverwerten: Geschichte, die Lust auf Veränderung macht. Die aktuellen Herausforderungen - Begrenztheit der Ressourcen, Ende der Konsumgesellschaft, wachsende Ungleichheit - drängen. Die Sehnsucht nach Alternativen ist groß, doch wir tun uns schwer, neue Wege zu finden, Dabei müssten wir nur weiter in der Geschichte zurückgehen, um Anregungen für unsere Zukunft zu entdecken. Annette Kehnel unternimmt in "Wir konnten auch anders" eine Spurensuche in die Vormoderne und beschreibt anschaulich Lebens- und Wirtschaftsformen der Nachhaltigkeit. Ein fundierter Blick zurück - verbunden mit dem festen Vorsatz, für die Zukunft zu lernen.
"Antisemitismus - eine deutsche Geschichte" von Peter Longerich
Der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich die Lage für Juden in Deutschland geworden ist - die Debatte hat auch offengelegt, dass antijüdische Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft existieren. Der Blick in die Geschichte offenbart, dass das Verhältnis zum Judentum vor allem ein Spiegel des deutschen Selbstbildes und der Suche nach nationaler Identität geblieben ist. Eine fundierte, mit zahllosen Quellen belegte Geschichte des "modernen" Antisemitismus, die zeigt, wie und warum aus der (mittelalterlich) religiösen eine weltliche Abwertung des Judentums wurde. "Antisemitismus - eine deutsche Geschichte" ist ein Hintergrundbuch zu einem leider wieder aktuellen Thema.
"Eingefroren am Nordpol" von Markus Rex
Das Logbuch von der Polarstern erzählt die Geschichte eines der größten Forschungsabenteuer unserer Tage und bietet zugleich einen eindringlichen Blick auf die dramatischen Folgen des Klimawandels. Rex berichtet spannend und anschaulich vom Alltag der Expedition in die Arktis und beschreibt die unvorstellbaren Herausforderungen, die sein Team - immer von dem Ziel geleitet, Licht in die Prozesse des globalen Klimawandels zu bringen - dabei meistert. Denn dort entsteht das Klima der Zukunft. "Eingefroren am Nordpol" ist ein mitreißendes, spannendes, vor allem aber lehrreiches Buch über wissenschaftliches Arbeiten, zum Klimawandel und seine Folgen - erzählt ohne erhobenen Zeigefinger, dafür umso eindringlicher.
"Why We Matter" von Emilia Roig
Wie erkennen wir Privilegien? Wie können Weiße die Realität von Schwarzen sehen? Männliche Muslime die von weißen Frauen? Und weiße Frauen die von männlichen Muslimen? Emilia Roig zeigt - auch anhand ihrer eigenen Geschichte, in der wie unter einem Brennglas Rassismus und Black Pride, Antisemitismus und Auschwitz, Homophobie und Queerness, Patriarchat und Feminismus aufeinanderprallen -, wie sich Rassismus im Alltag mit anderen Arten der Diskriminierung überschneidet. "Why We Matter" ist ein dringlicher Versuch, Unterdrückungsmechanismen entgegenzutreten, Schubladendenken und Hierarchien aufzubrechen - und anders und frisch über Gesellschaft nachzudenken. Authentisch, überzeugend, klug.
"Ground Zero" von Stefan Weidner
Die Gegenwart beginnt am 11. September 2001. Die Welt, in der wir heute leben, hat ihren Ursprung am Ground Zero: Das Ende der USA als alleinige Weltmacht, Guantanamo und die Konfrontation zwischen dem Westen und der islamischen Welt, die Flucht vor den Kriegen im Nahen Osten, der Aufstieg von Populismus und Nationalismus, all das nimmt hier seinen Anfang. Hat Bin Laden also gewonnen und die Selbstgewissheiten des Westens entzaubert? Wäre es nicht an der Zeit, die Welt neu zu denken? Wo steht der Westen nach dem Afghanistan-Debakel? Über das Davor und Danach von 9/11 wurde viel geschrieben. In "Ground Zero" gibt es neue Aha-Momente, weil der Autor zu schmerzhaften Schlussfolgerungen kommt.