Meinhard Miegel über Gier
Im Januar stand das Thema Gier im Fokus der Essay-Reihe "Nachdenken über ...". Mit dabei sind Franziska Augstein, Friedrich Schorlemmer und Jan Arnald, alias Arne Dahl. Den Abschluss der Reihe bildet der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel.
Das seit einiger Zeit zur Allerweltsfloskel gewordene "gern", das bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur Anwendung kommt und der Begriff "gierig" oder auch "Gier" sind sprachgeschichtlich eng miteinander verwandt. Ihr gemeinsamer Wortstamm steht für "Begehren" und "Verlangen" und erst im Laufe der Zeit wurde der Begriff "Gier" mit Maßlosigkeit, Übermäßigkeit und Ungezügeltheit verbunden.
Gleiche Verhalten abhängig von Raum und Zeit
Wie in so vielen Lebensbereichen gilt auch in diesem Fall: Aus einem völlig akzeptablen, ja sogar wertgeschätzten und für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung durchaus förderlichen Verhalten wird etwas verwerflich Destruktives, wenn es im Übermaß praktiziert wird. Gerne über ein gewisses Einkommen und Vermögen oder einen sozialen Status zu verfügen ist in Gemeinwesen wie dem unseren regelkonform. Habgier und Hoffart hingegen sind mit dem Bannstrahl eines gesellschaftlichen Unwerturteils belegt. So jedenfalls nach dem Wertekanon ethischer Normen.
In der Lebenswirklichkeit bereitet die Grenzziehung zwischen gern und gierig, zwischen angemessenem und übermäßigem Begehren und Verlangen erhebliche Schwierigkeiten. Abhängig von Raum und Zeit gilt das gleiche Verhalten das eine Mal als gesellschaftlich angemessen und ein anders mal als heilausschließende Todsünde.
Was ist das rechte Maß?
Dabei leben wir heute in einem Raum und einer Zeit, in der die Grenze zwischen gern und gierig weit zur Gier hin verschoben worden ist. Nur so ist es möglich, dass ohne einen gellenden Aufschrei derzeit ein Prozent der Weltbevölkerung über 60 Prozent der Weltgütermenge verfügt und ein Fünftel über 83 Prozent. Die übrige Menschheit lebt fast buchstäblich von den Brosamen, die von den Tischen der Reichen - unseren Tischen - fallen. Und nur so ist es möglich, dass seit wenigen Generationen ein Teil der Weltbevölkerung mit uns, den Bevölkerungen der früh industrialisierten Länder an der Spitze, ohne Rücksicht auf andere Völker und Nachkommende massivst Raubbau an der Erde betreibt. Mit dem zutiefst menschlichen Begehr, gern und gut zu leben, ist ein solches Verhalten nicht mehr zu erklären. Hier ist etwas in die Brüche gegangen, um das die Menschen ringen, seit sie zu Kulturwesen wurden: das recht Maß.
Durch den Verlust dieses Maßes wurde - wieder einmal - aus einem an sich ganz natürlichen Begehren und Verlangen menschen- und gesellschaftszerstörende Gier. Was aber ist das rechte Maß? Auf Fragen wie diese geben philosophische Regelwerke und Religionen Antwort. Sie lautet seit Jahrtausenden: Durch das eigene Verhalten dürfen die Lebenschancen anderer nicht ungebührlich beeinträchtigt werden. Davon sind die Gierigen dieser Welt, die maßlos Verlangenden und Begehrenden heute jedoch weiter denn je entfernt.