Reeperbahn Festival zu Ende: Strongboi ausgezeichnet
Die Festival-Jury um Sänger Tim Bendzko ehrt am Sonnabend das Berliner Projekt Strongboi mit dem begehrten Nachwuchspreis im St. Pauli Theater. In den Locations wird derweilen bis spät in die Nacht weitergefeiert.
Vier Tage lang hat das Reeperbahn Festival 2024 rund 800 Programmpunkte in 80 Spielstätten geboten. Dazu zählten 480 Konzerte von 450 Acts aus über 30 Nationen, 40 Lesungen, Live-Podcasts und Ausstellungen. Rund 40.000 Besucher*innen plus 4.000 Fachbesucher*innen feierten hier seit Donnerstag gemeinsam. Und der Höhepunkt kommt zum Schluss. Nachdem alle sechs für den begehrten Nachwuchspreis nominierten Acts in den letzten beiden Festivaltagen ihre Performances vor Publikum und Jury zum Besten gaben, verkünden die Judges Emily Kokal, Julia Stone, Tayla Parx und Tim Bendzko im Rahmen der feierlichen Anchor Award Show am Samstagabend Strongboi als Sieger.
Vielfältige Shows der Newcomer rahmen die Preisverleihung
Kurz nach 18 Uhr begrüßt das Moderatoren-Duo Tarik Tesfu und Melissa Khalaj die geladenen Gäste im St. Pauli Theater. Alle sechs nominierten Newcomer treten nun noch einmal auf und zeigen, welch schwierige Aufgabe der Jury oblag.
Rockerin Kässy aus Österreich entwirft einen neuen futuristischen Dark-Pop-Sound, den sie authentisch präsentiert. "Sie weiß, wer sie ist", lobt Jurymitglied Emily Kokal den Auftritt der stilsicheren Newcomerin.
Die mongolische Jazz-Folksängerin Enji tritt in Kammerbesetzung neben Kontrabass und Gitarre auf. Gefühlvoll haucht, summt und jazzt sie ins Mikrofon. Die Wahlmünchnerin füllt den Theatersaal mit ihrer außergewöhnlichen Aura.
Popsängerin Beth McCarthy liefert eine perfekte Show
Die britische Popsängerin Beth McCarthy liefert eine grandiose Show um ihren Ohrwurm "Good Bi" ab, der leise startet und dann rockig mitreißt. Die 27-Jährige genießt es sichtlich, Publikum zu haben.
Die australische R'n'B-Musikerin Milan Ring begleitet ihren Gesang mit einem Looper und zwei Gitarren. Auch stimmlich liefert die Toningenieurin ab. Eine Konzentrationsleistung, die wenig Spielfreude erkennen lässt.
Strongboi-Frontfrau Alice Phoebe Lou lässt sich von der Musik mit Leichtigkeit über die Bühne treiben. "Himmlisch verträumt", bezeichnet die Jury die chillige Musik, die das Publikum in Vergessenheit geraten zu lassen scheint. Ein bisschen fühlt es sich aus dem Publikum heraus an, als würde man auf einer WG-Party im Flur sitzen. Dieses ausgeprägte "Gemeinschaftsgefühl" innerhalb der Band ist auch der Jury nicht verborgen geblieben.
Body Positivity mit Moonchild
Für einen musikalischen Knalleffekt sorgt zum Schluss der Nominierten-Acts die südafrikanische Musikerin Moonchild Sanelly, die in einem knappen Latex-Anzug zu ihren lauten Bässen tanzt. Als Vertreterin des Body Positivity ist sie zum Vorbild geworden und hat 580.000 Follower auf Instagram.
Um 19:30 Uhr ist es dann soweit. Tayla Parx verliest die Laudatio und verrät, dass Strongboi die begehrte Auszeichnung gewinnt. Die Sängerin taumelt zur Bühne, hinter ihr die Bandmitglieder. Zur Trophäe erhalten Strongboi einen Voucher im Wert von 20.000 Euro für Technik. Außerdem wird Strongboi bei ihrer nächsten Tour einen Tourbus nutzen können. Sichtlich ergriffen betreten Lou und Keyboarder Ziv Yamin die Bühne. "Ich bin ein bisschen zittrig", sagt die junge Sängerin, als sie die goldene Trophäe in den Händen hält. "Es ist eine große Ehre!"
Auf der Reeperbahn geht das Fest weiter
Die Hamburger Band Tonbandgerät zieht das Publikum vor die Open-Air-Bühne am Spielbudenplatz, während ein paar Meter weiter Wavvyboi im Docks performt.
Eine deutlich intimere Situation baut sich derweilen zwischen Hoodies, Mützen, Schals und anderen Fanartikeln im FC-St.-Pauli-Fanshop zwischen "Alles deren Schuld" und ihren Zuschauer*innen auf. In dem Sportartikelladen tritt das Publikum der Band aus Hamburg und Lüneburg beinahe auf die Füße. "I will Break your Heart" singt die lockige Frontsängerin zwischen Hoodies. Näher kommt man nirgends sonst an die Bühne. Allerdings sieht man auch nicht viel, wenn man nicht ganz vorne steht.
Bushida rappt im Moondoo
Deutschrapperin Bushida steht im Moondoo auf der Bühne. Hinter ihr hat sich eine DJane aufgebaut, die sie mit elektronischem Sound versorgt. Bushida begrüßt die Zuschauer und freut sich, dass so viele gekommen sind. In dem dunklen Club fällt es schwer, die Rapperin auszumachen. Hinzu kommt, dass Bushida in Streetwear auf der Bühne steht. Sie trägt eine lockere Hose, Top und Weste, dazu hochgesteckte Haare und Brille. Mehr Understatement geht nicht. "Folgt mir doch auf Plattformen", fordert sie die Menge auf und beginnt ihre unterhaltsame Show. Understatement ist Kult. Auf den sehr guten tanzbaren Sounds beschwert sie sich über Rassismus, Depressionen und Sexismus und tanzt dazu Popping.
Das junge Publikum feiert Kasi am Spielbudenplatz
Um 22 Uhr steht der nächste Act an der Open-Air-Bühne am Spielbudenplatz auf dem Plan. Hiphopper Kasimir Herbst alias Kasi aus Frankfurt wird von seinen jungen Fans erwartet. Als er um zwei nach zehn noch nicht da ist, fangen die ersten Teenager an, nach ihm zu rufen. Die Menge grölt, als eine Antwort von der Technik kommt und Musik erklingt. Fehlalarm. Kasi lässt noch auf sich warten. Nach weiteren drei Minuten und lauterwerdenden Beschwerden, kommt der Junge mit der Mütze raus. Er startet mit "Immatrikuliert" und die textsichere Crowd feiert ihr Idol. Weiter geht es mit einem Trennungssong. Kasis Texte erzählen von Alltagsorgen und Liebeskummer. Seine Zielgruppe ist begeistert.
Stereotype im Angie‘s
Auch Pomp gibt es auf St Pauli. Im Angie’s stehen dunkelbraune Lesersofas vor dunkelblauen Wänden mit goldenen Highlights. Schwere Samtvorhänge sorgen für edle Behaglichkeit, Kronleuchter und Spiegel mit goldfarbenen Rahmen unterstreichen die Atmosphäre. Die Bühne, auf der gleich ein weiteres musikalisches Highlight stehen wird, ist klein. Der Raum davor ist gut gefüllt. Als das iranische Duo Stereotype seinen Platz eingenommen hat, ertönen metallische Elektroklänge, die an Horrorfilmmusik erinnern. Die Sängerin Meshcut singt mit tiefer Stimme. Blaues Gegenlicht verhindert, dass man die Gesichter der Künstlerinnen erkennt. Strobolichter, die ins Publikum blitzen, sorgen für weiteres Unbehagen. Als das Lied endet, hört man die weiche Frauenstimme Meshcuts: "Wir sind so aufgeregt. Den ganzen Weg, den wir aus Teheran hinter uns gebracht haben… Danke, Reeperbahn-Festival."
Dann geht die Dark-Techno-Show des Duos weiter. In der Musik brechen sie mit Bildern weiblicher Stereotype, wie es in diesem Jahr viele Künstler*innen taten. Das Reeperbahn Festival 2024 konnte an Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre angeknüpfen, Vielfalt abbilden und die ein oder andere Brücke zwischen Genres schlagen. Deutlich wurde: Gegen Konformität, Grenzen und Normen rebelliert die neue Musikgeneration. Was dabei rauskommt, ist aller Ehren wert.