Neue Alben von alten Bands: Ist das eine Masche?
Gibt es nur noch neue Alben von alten Bands? Wo versteckt sich die Musik von neuen Künstler*innen? In seinem Kommentar erörtert Musikjournalist Matthes Köppinghoff die Wahrnehmung der aktuellen Pop- und Rockmusik im Musikjournalismus.
"Hej Matthes! Liegt es an meinem Tunnelblick oder erscheinen momentan wirklich vermehrt neue Alben von alten Bands? Blur, Everything But The Girl, Fury In The Slaughterhouse... gefühlt hat sich seit dem Abi nicht viel getan!" Diese Anfrage schreibt mir eine Kollegin, die ich spontan mit "NEIN!" beantworte. Dahinter setze ich aber schnell auch ein "Aber" und denke an meine Kritiken zu Noel Gallagher, Depeche Mode und den Foo Fighters.
Über die Wahrnehmung von alten Bands
Sind neue Alben von alten Bands eine Marketing-Masche, auf die Medien auch mal reinfallen und es allein deswegen mehr Berichterstattung gibt? Nicht unbedingt - aber ein bisschen schon. Natürlich fällt man als Musik-Journo auf manche Dinge rein.
Das fängt schon mit der persönlichen Situation an - ich bin ein 40-jähriger, bausparender Musikjournalist. Selbstverständlich habe ich per se nicht die leiseste Ahnung davon, worauf 20-jährige Musikfans stehen. Dafür muss ich schon recherchieren und auf Konzerte gehen (viele da und Jubel = gut; keiner da oder "Buh" = schlecht oder zu nerdig). Doch eben jene Musikfans werden in einigen Fällen, zum Beispiel bei Tocotronic, Depeche Mode oder The Cure, zu Fans der "zweiten oder dritten Generation", wie es eine andere Arbeitskollegin so schön formuliert hat. Hier also fünf Ansätze, warum die Wahrnehmung zu "alten Bands" ein insgesamt schwieriges Thema ist.
1) Gibt es nur die gleichen Bands wie früher?
Alle bisher genannten Künstler*innen liefen auch um die Jahrtausendwende im Jägerhof in Dinslaken, wo diverse Abi-Stufen vom Niederrhein zusammentrafen. Klein-Matthes feierte dann zu Grunge, Britpop, Hamburger Schule und ein paar ironisch reingestreuten 80ern. Die Red Hot Chili Peppers waren nach einer Krise mit "Californication" wieder angesagt. Ein paar Jahre später an der Uni sagte dann ein Kommilitone zu mir: "Das Album habe ich damals rezensiert. Ich fand es so furchtbar. Mein Text war ein kompletter Verriss. Konnte ja keiner wissen, dass das so erfolgreich wird!"
Besagtes Album hat sich millionenfach verkauft. Aus Journo-Sicht heißt es vor allem bei großen Bands: Obacht - das wollen eventuell viele hören, so auch der Nachwuchs. Und die nehmen das neue Schaffen, vielleicht auch einen Richtungswechsel im Bandsound komplett anders wahr. Selbstverständlich dürfen auch Bands und Künstler*innen, die schon ein Weilchen im Geschäft sind, neue Musik veröffentlichen - warum denn auch nicht? Ob die jeweilige neue Musik von Alten gut, schlecht oder berichtenswert ist, oder ob man nicht doch eher jüngeren Künstler*innen den Vorzug gibt, darum geht es doch. Dazu noch später mehr.
Wir werden geboren mit der Werkseinstellung, dass sich die Welt um uns dreht. Im Laufe des Lebens lernen dann die meisten, dass das nicht der Fall ist. Im Musikjournalismus muss man das dann auch noch mit dem Aspekt "Empathie" zusammenbringen, grob mit der Frage: "Wie finden Platte XY denn eigentlich andere Menschen außer mir?"
2) Warum viele keine Lust auf etwas Neues haben
Unsere Wahrnehmung ändert sich stetig. Vor ein paar Jahren gab es mal eine Studie eines Musikstreamingdienstes, die zu dem Schluss kam: Ab 31 hat man keine große Lust mehr, neue Musik zu entdecken. Lieber vertraut man auf Altbewährtes. Ich habe das sogar noch etwas dezidierter gelernt: In der Pubertät finden die Menschen zu ihrer musikalischen Identität. Und wenn man dann in etwa weiß, wann jemand sein Abitur gemacht hat, kann man ungefähr vorhersagen, welche Musik sie oder er nun mag - ob neu oder alt. Rebellion gegen die Eltern, Selbstbestimmtheit, Abgrenzung von anderen sozialen Gruppen (Musik ist immer auch Mode, so entscheiden sich manche für dicke Hosen und Hip-Hop, andere für Britpop und Bundeswehrparkas). Darin findet sich jeder wieder.
Andere Studien sagen, dass man im mittleren Alter auch Genres wie Jazz und Klassik für sich entdecken kann - Stichwort sozialer Status, mit Wohlstand angeben und so, während dann in noch späteren Jahren eh alles egal ist und zu Schlager gegriffen wird. Aber das ist nicht das eigentliche Thema dieses Textes. Zwischenfazit: Menschen mögen vor allem Musik, die sie kennen. Das ist Sinn und Zweck von Popmusik. Wird ein Song oft wiederholt, wird er zum Hit. Wiederholt ein Künstler einen Hit, wird er zum Star. Auch hier greift die Binsenweisheit: "Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht". Aber wenn man zumindest den Namen des Kochs kennt, kann man ja mal einen Happen probieren.
3) Warum es ohnehin schwierig ist, Lust auf etwas Neues zu haben
Wenn ich mich morgens auf den Weg zur Arbeit mache, sieht das in etwa so aus: Ich gebe meiner Frau zum Abschied einen Kuss, setze mir wenige Sekunden später meine Kopfhörer auf, latsche los und drücke während meines 20-Minuten-Spaziergangs zum Funkhaus fortwährend auf meinem Handy rum - und höre mich durch Listen. Plattenläden sind zwar toll, aber dass dort die wirkliche Musikwelt stattfindet, ist eine doch sehr romantische wie auch aus der Zeit gefallene Vorstellung. Außerdem auf Dauer sehr teuer. Wer einigermaßen im Überangebot der Musik mithalten möchte, der muss sich durch "kuratierte" Listen skippen - oder mindestens durch die Neuerscheinungen. Und das ist ja nur ein Bruchteil dessen, was veröffentlicht, geschweige denn was bei den Streaming-Giganten Spotify, Deezer und Apple hochgeladen wird.
Eine Rechnung: Mal angenommen, ein gewisser grünfarbiger Audio-Streaming-Dienst stellt täglich 100.000 Titel neu in sein Angebot. Was im Übrigen nicht übertrieben ist, auch wenn da viele Hörbücher, Podcasts, Mittelalterrock und unnötige Reissues mit drin sind. Weiterhin angenommen, ich würde mir jeden dieser Titel nur zehn Sekunden anhören, um mir einen minimalen Eindruck zu machen, wie der Song klingt (rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche, keine Pause). Dann wäre ich 11,57 Tage nonstop damit beschäftigt - und hätte wohlgemerkt nur einen einzelnen Release-Tag bei Spotify geschafft. Meine Chefin würde mich zurecht fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte. Allein die Liste "Billions Club" (also mit den Songs, die über eine Milliarde Mal gestreamt wurden, The Weeknd und so) umfasst aktuell 456 Songs. Bleiben wir bei den zehn Sekunden: Auch das sind schon 1,27 Stunden.
Ich bin also noch nicht einmal im Büro angekommen und habe ob des Überangebots das merkwürdige Bedürfnis, eine weiße Flagge zu schwenken. Aber das war ja nur das Streaming. Los geht es mit der Plattform "Musik Promotion Network" (MPN), auf der gesammelt die Industrie-Neuerscheinungen vorgestellt werden. Große Labels und kleine Promofirmen bombardieren und bemustern mich on top mit Mails, selten mit CDs und Schallplatten, rufen an, ob man dies oder das rezensieren möchte. Einige Künstler*innen versuchen es dazu noch auf eigene Faust, legen teilweise Süßigkeiten bei, um mehr beachtet zu werden. Am Ende des Tages freut man sich als Journo, ein paar bekannte, zuordnungsbare Gesichter und Namen im Postfach zu sehen, bei denen man weiß, was die in etwa für Musik machen. Und ob man jetzt Peter Fox mag oder nicht, ist dann egal. Allein, um sich einen Eindruck machen zu können und seine eigenen Repertoirekenntnisse aufzufrischen, muss man auch in sein neues Album reinhören.
4) Plattenfirmen sind böse, manche Medien auch (oder hilflos)
Je bekannter ein Künstler, eine Künsterlin ist, desto höher ist auch das Interesse an der jeweiligen neuen Musik. Bei jedem neuen Adele-Album dreht die Welt gefühlt durch. Hier könnte jetzt ein großes Name-Dropping stehen, ich belasse es aber mal mit einem Zitat aus einem Frittenbude-Song: "Beyoncé lacht euch alle aus und mich auch". Das wissen natürlich auch die großen Plattenfirmen, beziehungsweise es liegt an ihnen, schließlich verdienen sie damit prima Geld. Fürs Portfolio nimmt man ein paar kleine Acts unter Vertrag, richtig Kasse machen aber die großen Namen. Musikjournalismus, der sich ausschließlich mit Künstler*innen befasst, die nur eingeweihte kennen, hat es verdammt schwierig. Auflagen, Reichweiten und Klickzahlen lassen sich mit Taylor Swift (da kommt im Oktober schon wieder ein neues altes Album!), Metallica oder Ed Sheeran angenehm steigern.
Vor ein paar Jahren gab es die Situation, dass für das Rolling-Stone-Magazin schon Cover-Fotos mit Joy Denalane und Ilgen-Nur gemacht waren, sich die Redaktion dann aber doch für ein altes Foto von Bruce Springsteen entschied. "Born To Run" hatte irgendein ungerades Jubiläum. Und so eintönig-traurig das auch sein mag: Der Boss sorgt beim Zielpublikum dann doch für eine höhere Auflage als die Soulsängerin und die Indie-Musikerin zusammen.
Noch eine Zwischenerkenntnis: Manche "großen Alten" werden bewusst in den Fokus gerückt, weil man sich durch mehr Aufmerksamkeit eine größere Zielgruppe erhofft. Sie suggerieren dadurch, dass eben jene Künstler (es sind meistens Männer, daher kein Gendern) omnipräsent sind, auch wenn es sich um das 23. Album der Karriere handelt, eine unsinnige B-Seiten-Compilation oder vermeintlich "vergessene" Songs, die ein findiger Plattenfirmenmensch angeblich auf einem Dachboden gefunden hat. (Anmerkung: Wären die Songs so toll gewesen, wären sie bestimmt schon früher entdeckt worden.) Es bleibt die Hoffnung, dass die Maschinerie etwas "woker" wird, nicht nur aus dem reinen Wunsch nach Abwechslung. Immerhin hat der Rolling Stone Anfang 2023 die weibliche Supergroup Boygenius aufs Cover genommen. Vielleicht ein Anfang.
5) Es gibt immer gute neue Musik - man muss sie nur finden
Spätestens jetzt sollte man erwähnen: Es gibt auch viel Neues, das richtig gut ist. Da sollte man nicht so dogmatisch sein. Jeder (es sind meistens Typen), der mir sagt früher wäre alles besser gewesen, dem entgegne ich: Es gibt immer gute neue Musik. Es ist aber - wie gesagt - nicht immer so leicht, sie zu finden. Aber eben das ist ja auch mein Job. Da müsst ihr euch nicht drum kümmern.
Meine öffentlich-rechtliche Gatekeeper-Position verstehe ich vor allem so, wie es im ersten Absatz §26 des Medienstaatsvertrags geschrieben steht: "Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten." Davor steht noch was mit Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung, dummerweise nicht, ob ich jedes neue Album von einem Gallagher-Bruder besprechen muss oder nicht. Aber in meiner Auffassung heißt das insgesamt: Musikjournalismus muss einen möglichst umfassenden Überblick liefern, auch mal abseits des Mainstreams, gern auch neue Trends und Strömungen aufgreifen. Die simple Formel: Musik für alle, aber nicht für jeden einzelnen. Ob ich etwas gut finde, ist dabei übrigens komplett egal, denn um mich geht’s dabei nicht. Auch wenn es schwierig ist, bei einem so emotionalen Thema wie Musik objektiv zu bleiben.
Mein Ratschlag, sowohl für Musikfans als auch für Redaktionen: Offen sein für alles, neu, alt, Mainstream, Indie - es gibt immer schöne Perlen zu entdecken. Ich höre jetzt als nächstes das "neue" Livealbum von Liam Gallagher - in der Hoffnung, dass viele alte Oasis-Songs drauf sind.