Heribert Prantl zu Lindemann: "Der Unschuldsvermutung geht es nicht gut"
Im Interview erklärt Heribert Prantl, Jurist sowie Autor der "Süddeutschen Zeitung", wie er die Einstellung des Verfahrens gegen den Rammstein-Sänger Till Lindemann einschätzt.
Die Staatsanwaltschaft Berlin hat keine Beweise dafür gefunden, dass der Frontmann der Band Rammstein sexuelle Handlungen mit Frauen gegen deren Willen vorgenommen hat. Mutmaßliche Geschädigte haben sich zwar gegenüber Recherche-Teams geäußert, aber keine Anzeige gegen den Sänger erstattet.
Herr Prantl, was bedeutet die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft?
Heribert Prantl: Es bedeutet, dass nicht angeklagt wird. Und es bedeutet, dass eine Verletzte sich gegebenenfalls gegen diese Einstellung wehren kann, dass sie Einstellungsbeschwerde erheben kann, dass dann die Generalstaatsanwalt prüfen muss, ob es bei der Einstellung des Verfahrens bleibt. Wenn die Generalstaatsanwaltschaft auch sagt, dass es bei der Einstellung bleibt, könnten die echten oder angeblichen Opfer ein Klageerzwingungsverfahren anstrengen. Das ist alles möglich, aber sehr unwahrscheinlich. Die Äußerung der Staatsanwaltschaft, dass es in der gesetzlichen Formulierung heißt, dass kein genügender Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage vorliegt, ist doch sehr eindeutig und sehr klar.
Nun hört man, es hätten sich ausschließlich unbeteiligte Dritte zu einer Anzeige entschlossen. Ist das dann überhaupt hilfreich in so kompliziert beweisbaren Fällen?
Prantl: Nun ja, ich kann natürlich die Aussagen von echten und vermeintlichen Opfern wie Shelby Lynn, die sich ja sehr ausgiebig und sehr ausführlich geäußert hat, auch werten als eine Art Anzeige. Und die Staatsanwaltschaft wird ja nicht einfach nur tätig, wenn jemand anzeigt, sondern auch dann, wenn Anhaltspunkte da sind, die in den Medien oder in der Öffentlichkeit ausgebreitet werden, die den Verdacht nahelegen, dass Straftaten passiert sind. Diesen echten oder vermeintlichen Tatsachen ist sie nachgegangen und hat nicht genügend gefunden.
Die Haltung der Journalistinnen und Journalisten, die jetzt angegriffen werden, unter ihnen auch Kollegen der "Süddeutschen Zeitung" und des Norddeutschen Rundfunks, ist: Es gibt einen Unterschied zwischen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und journalistischen Recherchen. Die Vorwürfe, die jetzt geäußert werden, sind: "Ihr habt hier Rufmord begangen." Wie schätzen Sie das ein?
Prantl: Das Unschuldsprinzip ist kein Beschwichtigungsprinzip - auch für jemanden, den man nicht leiden kann. Viele können Till Lindemann nicht leiden, weil er so agiert, wie er agiert, weil er auf der Bühne steht, einschlägige Sachen sagt, einschlägige Gedichte geschrieben hat. Man wirft ihm einfach Dinge vor, die schamlos sind. Schamlosigkeit als solche ist kein Straftatbestand. Aber die Medien dürfen auch ihre Urteile unabhängig davon fällen, ob das Verhalten des Beschuldigten nach dem Strafgesetzbuch strafbar ist oder nicht. Ein solches öffentliches Moralurteil ist nicht per se unzulässig. Berechtigte Vorwürfe gibt es auch außerhalb des Strafrechts. Die Staatsanwaltschaft prüft nur strafrechtliche Vorwürfe, aber die Medien müssen, zumal dann, wenn ihre Berichterstattung richtende, existenzielle Auswirkungen hat, rechtliche Grundregeln beachten: Man darf nicht verleumden und man darf kein falsches Zeugnis geben. Aber man darf reden und schreiben, wenn es der Wahrnehmung berechtigter Interessen dient. Auch ein Moralurteil kann der Wahrnehmung berechtigter Interessen dienen. Auch die Aufdeckung von Machtmissbrauch gehört zur Wahrnehmung berechtigter Interessen.
Aber, und das wird nach der Entscheidung der Staatsanwaltschaft diskutiert werden: Die Unschuldsvermutung setzt der veröffentlichten Meinung Grenzen, wenn dort selbstherrlich Pranger errichtet werden und wenn vorschnell Vorverurteilungen verbreitet werden. Die Bloßstellung eines Menschen, in dem Fall von Herrn Lindemann, ist kein Ermittlungszweck, auch nicht bei journalistischen Recherchen. Wir erleben also gerade in diesem Fall die Ambivalenz des Unschuldsprinzips, aber ich denke, billiger ist der Rechtsstaat nicht zu haben.
Wenn wir uns ähnliche Fälle wie Kevin Spacey oder Jörg Kachelmann angucken - das sind schon Geschädigte. Gehen Medien zu weit in ihrer Berichterstattung?
Prantl: Das muss man sich immer wieder überlegen. Die Selbstreflexion gehört ja auch zu unserem Gewerbe. Es geht immer um die Unschuldsvermutung: Haben die Medien gegen die Unschuldsvermutung verstoßen? Auch der Fall Kachelmann und der Fall Christian Wulff gehören hierher. Meine Feststellung aus den Beobachtungen über viele Jahre ist: Der Unschuldsvermutung geht es nicht gut. Mir kommt sie immer vor wie der Versuch, mit einem Taschentuch ein hell erleuchtetes Schaufenster abzudunkeln. Wenn die Unschuldsvermutung nichts mehr hilft, dann ist es gefährlich für die rechtliche Kultur, aber auch für die politische Kultur.
Die Unschuldsvermutung muss auch uns in der journalistischen Arbeit begleiten. Es darf nicht so sein, wie es dann immer wieder ist, dass der Hinweis auf die Unschuldsvermutung schon als Kumpanei mit dem echten oder vermeintlichen Täter gilt. Das ist nicht so. Der Hinweis auf die Unschuldsvermutung ist ein Hinweis auf den Rechtsstaat, der auf die Unschuldsvermutung pocht. Der ist kein Kumpan der Amoral, sondern ein Hüter des Rechtsstaats. Aber: Unschuldsvermutung heißt nicht, dass Opfer nicht reden, Zeugen nicht aussagen und Medien nicht schreiben oder nicht senden dürfen. Sie müssen sich dabei ihrer Verantwortung bewusst sein und im Hinterkopf das Wort "Unschuldsvermutung" haben. Ich darf nicht so weit gehen, dass, solange die Dinge nicht bewiesen sind, die Existenz eines Menschen vernichtet wird.