Die Musikerin Nadia Boulanger mit der französischen Komponistin Lili Boulanger (1893-1918) - undatiertes Archivfoto © picture alliance / Doppio/ Doppio/Leemage

Women in Music: Lili Boulanger

Stand: 08.03.2021 07:30 Uhr

Lili Boulanger gewann als erste Frau überhaupt den Rom-Preis des Pariser Konservatoriums - mit 19 Jahren. 1918 verstarb die Komponistin mit nur 24 Jahren, hinterließ jedoch über 50 Werke.

von Christiane Irrgang

Nadia ist acht Jahre alt. Während sie am Klavier ihre Tonleitern übt, kann sie im Nebenzimmer die Erwachsenen bei einer der Soiréen ihrer Mutter plaudern hören. Direkt neben ihr liegt ihre zwei Jahre alte Schwester im Bett und schläft die ganze Zeit. Das heißt, wenn sie nicht gerade hustet und weint. Dann kommt Nadias Vater, setzt sich zu ihr ans Klavier, streichelt ihr übers Haar und sagt leise und ernsthaft: "Versprich mir, dass du immer gut für die kleine Lili sorgen wirst!"

Die Künstlerin und Komponistin Lili Boulanger © Wikicommons
Ausgeprägter Schaffensdrang: Lili Boulanger komponierte in ihrem kurzen Leben über 50 Werke.

Keiner von beiden weiß, dass die Lungenentzündung, gegen die Lili im Schlaf ankämpft, sie ein Leben lang schwächen wird. Sie wissen auch nicht, dass Lili ein Wunderkind ohne Gleichen werden wird. Dass sie mit fünf ihre Ausbildung am Pariser Konservatorium beginnen wird, zusammen mit Nadia, und dass sie Klavier, Violine, Cello, Harfe und Orgel lernen wird. Und dass sie mit 24 einen tragisch frühen Tod sterben wird. Lili Boulangers Leben wurde von zwei Themen geprägt: ihrem außergewöhnlichen Talent und ihrer Krankheit. Sie brachte es fertig, über 50 Werke zu komponieren, darunter Klaviertrios, Hymnen, Chorwerke und die Kantate "Faust und Helene". Dafür gewann sie 1912 als erste Frau überhaupt den Rom-Preis des Pariser Konservatoriums - mit 19 Jahren.

Unterstützung durch die Schwester Nadia Boulanger

Aber Lili Boulangers Musik zeichnet sich durch noch etwas aus: ihre Schwester Nadia. Wenn Nadia Boulanger nicht einen großen Teil ihres Erwachsenenlebens Lili gewidmet und sie physisch, mental und finanziell unterstützt hätte, dann hätten wir diese Musik vielleicht nie kennengelernt. Nadia Boulanger, selbst eine Komponistin und hoch geschätzte Musiklehrerin, gründete 1939 die Lili Boulanger-Gedächtnis-Stiftung, um sicherzustellen, dass die Werke ihrer jüngeren Schwester nie vergessen würden. Und ihr diktierte Lili auch in ihren letzten Lebensjahren ihre Werke, als sie zu schwach war, um sie selbst niederzuschreiben. Das "Pie Jesu" gehört dazu.

Lili Boulanger wurde 1893 in Paris geboren. Ihr Vater Ernest war ein Komponist. Ihre Mutter Raissa, eine russische Gräfin, hatte bei ihm am Konservatorium Gesang studiert. Die Familie Boulanger war äußerst aktiv im Pariser Musikleben. Raissa organisierte Abendgesellschaften, bei denen sie selbst als Sängerin auftrat, neben Pianisten wie Camille Saint-Saëns. Ein Freund der Familie, Gabriel Fauré, bemerkte als erster, dass die jüngere Boulanger-Tochter das absolute Gehör hatte. Sie beeindruckte ihn, und er begann, bei seinen Besuchen mit ihr Lieder zu erarbeiten. Als Lili den Rom-Preis gewann, bekam sie auch ein Stipendium für einen dreijährigen Studienaufenthalt in der Villa Medici in Rom. Ihre Ärzte versuchten, sie von dieser Reise abzuhalten. Aber für Lili gab es keinen Zweifel: Sie musste diese Erfahrung machen.

Tod beeinflusst letzte Werke

Der Leiter der Villa Medici trat ihr gegenüber feindselig auf. Er war überzeugt, eine Frau an der Akademie würde die Disziplin der anderen Studenten stören. Und Lili bekam keine Chance, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, denn mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs musste sie nach Paris zurückkehren. Dort begannen sie und Nadia, mit musikalisch interessierten Soldaten an der Front zu korrespondieren. Lili war 22, als die Ärzte ihr mitteilten, dass sie nichts mehr für sie tun könnten. Das wirkte sich unmittelbar auf ihre Musik aus. Die Kranke begann, Werke mit religiösem Charakter zu komponieren, darunter Hymnen und Texte aus dem Alten Testament. 1918 starb Lili Boulanger 24-jährig an Tuberkulose. Nadia überlebte ihre Schwester um 61 Jahre.

Im Rahmen der Reihe "Women in Music" stellt NDR Kultur Komponistinnen vor, die in der Geschichte viel zu wenig Beachtung gefunden haben.

Weitere Informationen
Die schwedische Komponistin und Geigerin Amanda Maier-Röntgen © picture alliance / Heritage Images | IBL Bildbyra

Women in Music: Amanda Maier

"Sie gehörte zu meinen Lieblingen", schrieb Edvard Grieg über Amanda Maier. Nach ihrem Tod geriet sie in Vergessenheit. mehr

Historische Zeichnung von der Pianistin und Komponistin Clara Schumann sitzt am Klavier sitzend und spielend. © picture alliance/Mary Evans Picture Library

Women in Music: Clara Schumann

Clara Schumann schrieb bereits als Kind innovative Klavierkonzerte. Nach dem Tod ihres Mannes - zieht sie sich früh vom Komponieren zurück. mehr

Komponistin Emilie Mayer auf einer undatierten historischen Lithografie © picture alliance / dpa | Theater Neubrandenburg, Quelle: Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz

Women in Music: Emilie Mayer

Emilie Mayers Kompositionen wurden in ganz Europa aufgeführt, doch schon eine Generation später war sie vergessen. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassikboulevard | 28.02.2021 | 14:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Klassik

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Porträt von Philipp Schmid © NDR Foto: Sinje Hasheider

Philipps Playlist

Philipp Schmid kennt für jede Lebenslage die richtige Musik. Egal ob Pop, Klassik oder Jazz. Träumt Euch zusammen mit ihm aus dem Alltag! mehr

Peter Urban © NDR Foto: Andreas Rehmann

Urban Pop - Musiktalk mit Peter Urban

Spannende Stories, legendäre Konzerte, bewegende Begegnungen: Peter Urban hat viel erlebt und noch mehr zu erzählen. mehr

Mehr Kultur

Fünf Papierblätte mit fröhlichen und traurigen Smileys liegen auf einer Holzplatte © picture alliance / CHROMORANGE Foto: Michael Bihlmayer

"Die Kunst des Loslassens": Wege zu einem glücklichen Leben

Wir müssen uns auf Negatives einstellen und Positives genießen, sagt der Philosoph Albert Kitzler im Podcast Tee mit Warum. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?