Women in Music: Lili Boulanger
Lili Boulanger gewann als erste Frau überhaupt den Rom-Preis des Pariser Konservatoriums - mit 19 Jahren. 1918 verstarb die Komponistin mit nur 24 Jahren, hinterließ jedoch über 50 Werke.
Nadia ist acht Jahre alt. Während sie am Klavier ihre Tonleitern übt, kann sie im Nebenzimmer die Erwachsenen bei einer der Soiréen ihrer Mutter plaudern hören. Direkt neben ihr liegt ihre zwei Jahre alte Schwester im Bett und schläft die ganze Zeit. Das heißt, wenn sie nicht gerade hustet und weint. Dann kommt Nadias Vater, setzt sich zu ihr ans Klavier, streichelt ihr übers Haar und sagt leise und ernsthaft: "Versprich mir, dass du immer gut für die kleine Lili sorgen wirst!"
Keiner von beiden weiß, dass die Lungenentzündung, gegen die Lili im Schlaf ankämpft, sie ein Leben lang schwächen wird. Sie wissen auch nicht, dass Lili ein Wunderkind ohne Gleichen werden wird. Dass sie mit fünf ihre Ausbildung am Pariser Konservatorium beginnen wird, zusammen mit Nadia, und dass sie Klavier, Violine, Cello, Harfe und Orgel lernen wird. Und dass sie mit 24 einen tragisch frühen Tod sterben wird. Lili Boulangers Leben wurde von zwei Themen geprägt: ihrem außergewöhnlichen Talent und ihrer Krankheit. Sie brachte es fertig, über 50 Werke zu komponieren, darunter Klaviertrios, Hymnen, Chorwerke und die Kantate "Faust und Helene". Dafür gewann sie 1912 als erste Frau überhaupt den Rom-Preis des Pariser Konservatoriums - mit 19 Jahren.
Unterstützung durch die Schwester Nadia Boulanger
Aber Lili Boulangers Musik zeichnet sich durch noch etwas aus: ihre Schwester Nadia. Wenn Nadia Boulanger nicht einen großen Teil ihres Erwachsenenlebens Lili gewidmet und sie physisch, mental und finanziell unterstützt hätte, dann hätten wir diese Musik vielleicht nie kennengelernt. Nadia Boulanger, selbst eine Komponistin und hoch geschätzte Musiklehrerin, gründete 1939 die Lili Boulanger-Gedächtnis-Stiftung, um sicherzustellen, dass die Werke ihrer jüngeren Schwester nie vergessen würden. Und ihr diktierte Lili auch in ihren letzten Lebensjahren ihre Werke, als sie zu schwach war, um sie selbst niederzuschreiben. Das "Pie Jesu" gehört dazu.
Lili Boulanger wurde 1893 in Paris geboren. Ihr Vater Ernest war ein Komponist. Ihre Mutter Raissa, eine russische Gräfin, hatte bei ihm am Konservatorium Gesang studiert. Die Familie Boulanger war äußerst aktiv im Pariser Musikleben. Raissa organisierte Abendgesellschaften, bei denen sie selbst als Sängerin auftrat, neben Pianisten wie Camille Saint-Saëns. Ein Freund der Familie, Gabriel Fauré, bemerkte als erster, dass die jüngere Boulanger-Tochter das absolute Gehör hatte. Sie beeindruckte ihn, und er begann, bei seinen Besuchen mit ihr Lieder zu erarbeiten. Als Lili den Rom-Preis gewann, bekam sie auch ein Stipendium für einen dreijährigen Studienaufenthalt in der Villa Medici in Rom. Ihre Ärzte versuchten, sie von dieser Reise abzuhalten. Aber für Lili gab es keinen Zweifel: Sie musste diese Erfahrung machen.
Tod beeinflusst letzte Werke
Der Leiter der Villa Medici trat ihr gegenüber feindselig auf. Er war überzeugt, eine Frau an der Akademie würde die Disziplin der anderen Studenten stören. Und Lili bekam keine Chance, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, denn mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs musste sie nach Paris zurückkehren. Dort begannen sie und Nadia, mit musikalisch interessierten Soldaten an der Front zu korrespondieren. Lili war 22, als die Ärzte ihr mitteilten, dass sie nichts mehr für sie tun könnten. Das wirkte sich unmittelbar auf ihre Musik aus. Die Kranke begann, Werke mit religiösem Charakter zu komponieren, darunter Hymnen und Texte aus dem Alten Testament. 1918 starb Lili Boulanger 24-jährig an Tuberkulose. Nadia überlebte ihre Schwester um 61 Jahre.
Im Rahmen der Reihe "Women in Music" stellt NDR Kultur Komponistinnen vor, die in der Geschichte viel zu wenig Beachtung gefunden haben.