Die Klassikwelt im Jahr 2022: Offen für neue Impulse
Was hat die Klassik-Szene im Jahr 2022 geprägt? Welche Persönlichkeiten, Trends und Erschütterungen haben besondere Spuren hinterlassen?
"Ich will, dass ukrainische Musik als Teil vom Musikerbe in der Welt angenommen wird und nicht als: 'Ah, da sind ukrainische Musiker, es gibt einen Korb zum Spenden.'", sagt Vlada Shchavinska. Der Wunsch der in Hamburg lebenden Sängerin hat sich erfüllt: Musik aus der Ukraine, etwa von Komponisten wie Valentin Silvestrow, taucht 2022 viel öfter in Konzertprogrammen auf. Nicht nur als Geste der Solidarität, sondern aus echtem Interesse.
Künstlerinnen und Künstler, die in Russland leben oder vom russischen Staat gefördert werden, müssen sich dagegen kritische Fragen gefallen lassen, wenn sie zum Angriffskrieg ihres Landes schweigen und trotzdem im Westen auftreten wollen.
Musik ist politischer geworden im Jahr 2022. Im Iran wird sie zum Instrument des Widerstands. Ein Lied des Sängers Shervin Hajipour mit dem Titel "Baraye" gilt als Hymne der Revolution. Der Text zitiert Tweets von Demonstrantinnen und Demonstranten, die schreiben, warum sie auf die Straße gehen. "Für ein lachendes Gesicht" heißt es da, oder: "Für ein Gefühl des Friedens".
Die Rückkehr der Zuschauer
In der Klassik gab es neben Krisen und Erschütterungen aber auch gute Nachrichten: Nach den Corona-bedingten Einschränkungen und Zwangspausen feiert das öffentliche Konzertleben seine allmähliche Rückkehr zum Normalbetrieb. "Wir hatten immerhin 60.000 Besucher, über 30 vollkommen ausverkaufte Konzerte, das ist mehr als vorab erwartet hätten. Es ist noch ein bisschen Luft nach oben, das kann man, glaube ich, offen sagen", so das Resümee von Ursula Haselböck, Intendantin der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern.
Der Andrang ist insgesamt zwar noch sehr schwankend und schwer vorherzusagen - aber manchmal sind die Säle und Kirchen wieder richtig voll, wie gerade erst im Dezember, bei vielen gut besuchten Aufführungen von Bachs Weihnachtsoratorium.
Neue Impulse in der Klassikwelt
Abseits von unverzichtbaren Dauerbrennern wie dem Weihnachtsoratorium verändert sich das Repertoire. Es wird durchlässiger für neue Impulse. Schwarze Komponistinnen und Komponisten, die der Klassik-Betrieb jahrzehntelang ignoriert hat, rücken stärker in den Fokus.
Eine große Entdeckung ist die afroamerikanische Komponistin Florence Price (Geburtsjahr 1887). "Sie war wirklich eine sehr eigenständige Komponistin. Sie hatte sehr starke Ideen zur Orchestrierung und zur Form", sagt Dirigent Yannick Nézet-Séguin. Er hat die erste Sinfonie von Price zum Saisonstart der Elbphilharmonie mit dem Philaldelphia Orchestra in Hamburg aufgeführt und der Komponistin zum Beginn des Jahres ein neues Album gewidmet.
Tonträgermarkt wandelt sich
Das Album erschien digital. Ein Zeichen für den Wandel des Tonträgermarkts. "Wenn wir uns die Klassik anschauen, sehen wir, dass im physischen Bereich der Rückgang neun Prozent war", sagt Florian Drücke, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Musikindustrie, mit Blick auf die Zahlen des ersten Halbjahres 2022. Der Umsatz mit physischen Tonträgern gehe merklich zurück.
Trotzdem sind auch 2022 noch viele tolle Aufnahmen auf LP und vor allem auf CD erschienen. Darunter etwa Klavierwerke von Dvorak mit dem Pianisten Leif Ove Andsnes, norddeutsche Cellokonzerte der Frühklassik mit der Cellistin Gulrim Choi - und alle Sinfonien von Jean Sibelius mit dem Oslo Philharmonic unter Leitung von Klaus Mäkelä, dem wohl größten Shooting Star der Klassik, nicht nur in diesem Jahr.