Der Dirigent Nicholas Milton © NDR Foto: Christiane Irrgang

Beethoven klassisch und gespiegelt in Uraufführung: "BLAP"

Stand: 18.02.2024 09:07 Uhr

Die Wiedereröffnung der Göttinger Stadthalle feierte die Stadt mit Musik von Beethoven und einer Uraufführung. NDR Kultur hat mit der Komponistin Anna Sowa und dem Generalmusikdirektor Nicholas Milton gesprochen. 

Das Symphonieorchester der Stadt spielte vor Beethovens Neunter die Uraufführung der Komposition: "BLAP". Die Komponistin Anna Sowa hat es als Prolog zu Beethovens Sinfonie geschrieben. "BLAP" ist inspiriert von Beethoven und endet, wie die Neunte Sinfonie anfängt - ein Kontrastprogramm.

Nach Jahren des Exils ist das Orchester sicher glücklich, wieder in die Stadthalle zurückkehren zu können. Aber Sie sind 2018 als Generalmusikdirektor angetreten, genau zu der Zeit, als die Renovierung begann. Wie gefällt Ihnen ihr neues musikalisches Zuhause? 

Nicholas Milton: Wir haben bis jetzt nur zwei Konzerte in der neuen Stadthalle gespielt. Also, wenn Leute mich fragen, wie ist die Akustik jetzt im Vergleich mit damals, kann ich das leider nicht beantworten. Aber es sieht schön aus. Für die Akustik müssen wir das jetzt zusammen mit dem Orchester noch entwickeln, wo wir genau sitzen, was die besten Positionen sind. Wir sind immer noch bei der Orientierung. Aber es war wichtig für mich, dass wir jetzt in dieser ersten Spielzeit mit Beethoven und Brahms anfangen, dann mit Bernstein und großem Repertoire, sodass ich wirklich hören konnte: Was sind die Limits dieses Saals? Wir sind sehr gespannt, aber vor allem ist es wichtig für ein Orchester, das so toll spielt, so engagiert für die Stadt und für Niedersachsen arbeitet, dass wir endlich ein gutes, gemütliches, angenehmes und professionelles Zuhause haben. 

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Konzert des Göttinger Symphonie Orchesters vom 02.12.2021 in der Aula in Göttingen © NDR Foto: Christiane Irrgang

Festkonzert zur Wiedereröffnung der Göttinger Stadthalle

Nicholas Milton dirigert Beethovens neunte Sinfonie und eine zeitgenössische Uraufführung von Anna Sowa. mehr

Ich frage jetzt absichtlich mal nicht, was die Limits des Saals sind, denn wir feiern ja nun seine Eröffnung. Warum haben Sie gerade ein so staatstragendes Werk wie Beethovens Neunte dafür gewählt? 

Milton: Für mich das war ein wichtiges Symbol für die Stadt, weil ich dachte, ja natürlich müssen wir als Orchester etwas Großes machen. Die Neunte ist für mich ein Stück, das genau die Fragen stellt, die in unserer Zeit jetzt wichtig sind. Der vierte Satz fängt an mit einer Beschreibung von einer Welt im Chaos. Das ist eigentlich eine Landschaft im Krieg. Und dann diese "Ode an die Freude" von Schiller, das ist dann eine Antwort, ein Wunsch von Beethoven, dass wir Frieden sehen und angemessen miteinander sprechen. Es geht um Frieden und Freude in dem Stück. Unsere Aufgabe in der Stadt ist es, mit unserer Musik Herzen zu öffnen und Seelen zu bereichern. Damit Leute in unsere Konzerte kommen und mit einer anderen Menschlichkeit nach Hause gehen. Darum habe ich dieses Stück ausgewählt.

Und gleichzeitig setzen Sie ein Zeichen, dass auch zeitgenössische Musik wichtig und willkommen ist. Wie ist es zu der Zusammenarbeit mit Anna Sowa gekommen? 

Milton: Wir hatten viel von Anna gehört, und wir hatten dann die Möglichkeit, mit ihr enger in Kontakt zu treten, auch durch unsere Initiative Neue Musik, die später in der Spielzeit kommt. Und als wir bemerkt haben, das geht, habe ich intensive Gespräche mit Anna geführt. Und dann kam sie auf die Idee, dieses Stück als Prolog zu komponieren, wirklich mit Elementen, mit Ideen, mit Inspiration von Beethoven und sogar so, dass das eine Stück direkt in das andere übergeht! Natürlich ist eine kleine Pause dazwischen, aber Annas Stück endet so, wie Beethoven anfängt. Und ich dachte, für einen Komponisten wie Beethoven, der einfach absolut neu gedacht hat und mit seiner "Eroica"-Sinfonie die sinfonische Form eigentlich komplett neu gedacht hat - und natürlich mit der neunten Sinfonie auch -, ist das eine wirklich schöne Zusammenarbeit. Es wird unser Publikum auf jeden Fall schockieren, weil da fantastische Ideen in dem Stück sind, unglaubliche Farben, wo die Musiker mit unüblichen Instrumenten spielen: Die Schlagzeuger haben Plastikflaschen und Polsterfolie; wir spielen alle möglichen Dinge und die Musiker müssen sogar vokalisieren. Das Programm zeigt das absolut klassische Repertoire mit Beethoven, aber auch, dass die Musiker in Göttingen engagiert und für etwas komplett Neues, absolut Avantgardistisches zu begeistern sind. 

Frau Sowa, war das nicht ein bisschen einschüchternd für Sie, ein Werk komponieren zu sollen oder zu dürfen, das ausgerechnet Beethovens Neunte einleiten würde? 

Anna Sowa: Ja natürlich, aber ich habe gedacht, dass das eine tolle Möglichkeit ist. Und dieser Beethoven war für mich erstmalig eine Inspiration. Natürlich höre ich ganz oft Beethoven, aber seine Musik war bisher nie direkt eine Inspiration für meine eigenen Stücke. Ich bin super gespannt, wie das Publikum das aufnehmen wird!  

Nicholas Milton hat ja gerade gesagt, das Publikum werde schockiert sein. Ist das Ihre Absicht, die Menschen zu schockieren? 

Sowa: Also, vielleicht nicht wirklich Absicht. Aber ich finde, es war auch wichtig, wirklich zeitgenössische Klänge zu komponieren, Klänge, die jetzt existieren. Und ich habe mir gedacht, Beethoven wäre vielleicht stolz, wenn eine Komponistin etwas wie neu oder wie in dieser Zeit komponiert, weil Beethoven auch supersupermodern für seine Zeit war. Also finde ich, das Gleiche sollte heute passieren. Und deshalb habe ich dieses Material gewählt.  

Erzählen Sie doch mal bitte, was ist mit dem Titel auf sich hat.  

Sowa: Das war auch für mich die große Frage: Wie soll ich diese Komposition nennen? Ich habe BLAP genommen, also "Blue Large-Amplitude-Pulsators", weil Warschauer Astronomen diesen Titel auch für eine Gruppe von pulsierenden Sternen gewählt haben. Und ich habe gedacht, Rhythmus, Puls, Tempo - das sind auch die Elemente, die in meiner Musik am wichtigsten sind. Das kann man auch in diesem Stück hören. Dann habe ich auch über die Sterne nachgedacht: Sterne, das ist auch die Europäische Union, das ist auch diese Sinfonie von Beethoven - und das sind ein paar Elemente, die zusammen supergut verbunden sind. Deshalb habe ich dem Stück den Titel BLAP gegeben. 

Und wieviel Beethoven hört man in Ihrem Werk, wenn man genau aufpasst? 

Sowa: Es sind ein paar Zitate, aber ich bin mir nicht sicher, ob alle das merken werden. Was ich auch gut finde. Aber ich finde, es ist auch superviel neues Material. Also muss man wirklich genau hinhören. Die melodischen Elemente kann man ziemlich schnell heraushören. Aber das andere, finde ich, ist schon wirklich weit von Beethoven entfernt. 

Nicholas Milton, die Neunte hatte ja auf die nachfolgenden Komponistengenerationen eine sehr starke Wirkung. Sie fragten sich, ob damit nicht alles gesagt sei, ob man danach überhaupt noch Sinfonien komponieren könne. Was macht diese Neunte zu solch einem Opus summum? 

Milton: Ja, das ist eine Frage, die vor allem Brahms beschäftigt hat. Und Brahms wusste von Anfang an, seine erste Sinfonie wird Beethovens zehnte sein, und deswegen hat er sich so gequält mit dem Stück. Also, es ist klar, dass jemand, der gerade in dieser Zeit lebte und Beethovens neunte Sinfonie hörte, die komplett neue Struktur einfach bemerkt hat! Dieser unglaubliche Anfang mit diesen leeren Quinten, wo wirklich alles in Frage gestellt wird von Beethoven. Was ist die Bedeutung von Leben und Menschlichkeit? Und dann dieses mächtige Scherzo, ein unglaublich wunderbarer dritter Satz, der gleichzeitig Rondo, Variation und Sonatenform ist! Bei Beethoven kann man nicht wirklich sagen, was das ist, weil er diese ganzen Formen, diese ganzen Strukturen komplett miteinander fusioniert hat. Was er dann mit dem Anfang vom vierten Satz macht, ist fast unbeschreiblich: Es fängt an mit einer Beschreibung von Krieg und von einer Welt im Chaos. Dann haben wir dieses Rezitativ, und wenn man sich nichts Weiteres mehr vorstellen kann, hören wir männliche Stimmen, und ein Chor kommt dazu und Solisten.

Also, für mich war das ganz klar, wir müssen das Stück machen. Es geht um Freude: Freude, dass wir als Göttinger Symphonieorchester wieder in der Stadthalle sind, Freude für unser Orchester, Freude für unsere Stadt. Es zeigt unsere Liebe für unser Göttingen und unseren Platz hier in Göttingen und was wir hoffen. Alle unsere Hoffnungen sind in diesem einem Stück, genau wie Hoffnung ein absolut integraler Bestandteil dieses Stücks ist.

Man könnte Beethovens Neunte als das unbekannteste weltbekannte Werk bezeichnen. Denn die "Ode an die Freude" kann wahrscheinlich fast jeder mitschmettern. Aber ob bei einem Ausschnitt, sagen wir, aus der Mitte des ersten Satzes treffsicher die richtige Antwort käme? Sind die ersten drei Sätze wirklich nur der Anlauf für das große Finale? 

Milton: Also für mich ist es nicht so. Für mich ist das ein fantastisches Stück Musik nach dem anderen. Und dann kommt der krönende Abschluss mit der "Ode an die Freude". Wenn ich an die Woche denke, wo wir das mit dem Orchester erarbeitet haben, das war so eine wunderbare Arbeit, dass wir wirklich tief in die Musik gehen konnten! Ich habe dem Orchester gesagt: Ich bin seit 2018 in Göttingen, und ich habe alle Sinfonien von Beethoven hier dirigiert - aber die Neunte noch nicht. Das ist für mich die erste Neunte in Göttingen, und das freut mich sehr.

Ich sehe das Werk als ein absolutes Gesamtkunstwerk im Sinne von Wagner, und auch die Arbeit mit Annas Werk war für mich absolut faszinierend. Genau wie wir bei der Arbeit mit Beethoven versucht haben, bestimmte Klänge zu machen, haben wir das mit Anna gemacht. Wir haben eine ganze Probe nur überlegt, wie können wir diesen Klang wunderbar kreieren, wo die Schlagzeuger mit einer Plastikflasche oder mit Bubble Wrap spielen, oder wo die Streicher komplett andere Techniken lernen müssen. Ich stelle mir vor, es ist ein bisschen ähnlich wie für die Leute, die die neunte Sinfonie von Beethoven zum ersten Mal gespielt haben. Die haben sich auch gefragt, was soll das sein? Das ist so ein kompliziertes Werk! Und ich denke, diese Arbeit, diese Phase, dieses Engagement, was wir gemeinsam gemacht haben, das hat sehr viel Spaß gemacht. 

Erleben Sie das immer so, Frau Sowa, dass so intensiv an ihren Werken gearbeitet wird? 

Sowa: Ich muss sagen, diese Proben machten mir auch wirklich auch Spaß, weil die Atmosphäre sehr gut ist. Jeder versucht, wirklich diese Klänge zu verstehen und wirklich gut zu machen. Und wenn wir über Beethoven reden, natürlich habe ich das so vorbereitet, dass nur ein kleiner Übergang kommen soll, und dann wir haben diese neunte Sinfonie. Aber ich war auch so neugierig darauf, wie das wirklich mit Orchester funktionieren wird. Und dieser Moment hat mir supersuperschön gefallen. Mein Stück hat geendet und plötzlich kommt die neunte Sinfonie, und das passt zusammen und funktioniert. Das hat mich wirklich gefreut!

Das Gespräch führte Christiane Irrgang.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Konzert | 18.02.2024 | 11:00 Uhr

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Klassik

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