Applausforscherin: Wann klatscht man (nicht) im Klassikkonzert - und warum?
Die Musikwissenschaftlerin Prof. Jutta Toelle spricht im Interview darüber, wie sich die Konventionen rund ums Klatschen im Konzertsaal entwickelt haben - und warum sie ihrer Meinung nach aufgeweicht gehören.
Es beginnt mit der immer wieder gestellten und gar nicht so einfachen Frage: Wann darf ich klatschen? Denn auch das ist im Konzertsaal von Moden und Strömungen abhängig. Tatsächlich gibt es Wissenschaftlerinnen, die sich professionell mit diesem Thema, der Konzert-Wirkungsforschung oder der Kulturgeschichte des Konzertes, beschäftigen. Eine von ihnen ist Prof. Jutta Toelle. Sie unterrichtet an der Gustav-Mahler-Privatuniversität für Musik in Wien, forschte auch für die Musikabteilung des Max-Planck-Instituts.
Frau Toelle, woher kommt der kollektive Applaus? Wie weit kann man ihn zurückverfolgen in der Geschichte der Menschheit?
Toelle: Der Applaus ist eng verknüpft mit der europäischen Kulturgeschichte, weil er auf die alten Griechen zurückgeführt werden kann. Soweit ich weiß, gab es in anderen Teilen der Welt, bevor die Europäer dahin gekommen sind, keinen Applaus wie wir ihn heute verstehen, also dass man als Kollektiv klatscht. Das ist eine ziemlich europäische Idee. In der griechischen Mythologie gibt es einen Satyr, ein Mischwesen, das bei den Musen auf dem Olymp wohnt und den Applaus spendet, also klatscht. Dieser Satyr heißt Krotos, und das Wort bedeutet "Beifall" auf Griechisch.
Was wissen wir über den Applaus im klassischen Konzert?
Toelle: Der Applaus ist eng verknüpft mit der Idee, dass einige Leute etwas aufführen und dass andere Leute zuschauen. In der griechischen und in der römischen Antike gab es das schon immer, und geklatscht wurde da auch. Das klassische Konzert hat das Performative und diese klare Rollentrennung aus dem klassischen europäischen Theater übernommen. Dass es sich im klassischen Konzert so extrem ausgebildet hat, wie wir es heute manchmal erleben und auch die Absurditäten davon, ist eine Erscheinung der letzten 150 Jahre.
Was meinen Sie, wenn Sie von Absurditäten sprechen?
Toelle: Naja, dass man im Symphoniekonzert nach dem ersten Satz nicht klatscht, ist ja so der Klassiker. Wenn dann Leute im Publikum sind, die sich nicht wahnsinnig gut auskennen, oder Kinder, die ganz begeistert klatschen, woraufhin die anderen Konzertbesucher "Pssssst!" machen, ist das so ein absurder Moment, der immer wieder passiert.
Hier im Norden wird gerade eine Debatte geführt, mit Zwischenrufen und Beschwerden von Dirigenten, die alle sagen: Das ist eine Mode, das geht vorüber.
Toelle: Ich glaube, dass die klassische Musik ganz allgemein und im deutschsprachigen Raum im Besonderen unter ziemlichem Druck steht, ihre Mainstream-Fähigkeit zu beweisen und ein bisschen aus diesem besonderen Segment rauszukommen. Da kommt diese Diskussion her, dass man sagt: Wenn wir mehr Leute ins Konzert holen wollen und auch eine größere Diversität an Menschen, dann müssen wir diese ungeschriebenen Regeln vielleicht aufweichen und größere Toleranz zeigen.
Wann ist die Applausordnung im klassischen Konzert entstanden - und warum?
Toelle: Genau wann das zum ersten Mal passiert ist, kann ich eigentlich nicht sagen. Aber vielleicht schon im späten 19. Jahrhundert, als man zunehmend ganze Symphonien gespielt hat, die dann nicht unterbrochen werden durften. Vorher hatte man mehr so Potpourri-Konzerte gemacht. Dann wurden die Orchester immer entrückter und es manifestierte sich eine immer größere Distanz zwischen Publikum und Orchester. Man kann auf jeden Fall sagen, dass es bestimmte Dirigenten aus der Zwischenkriegszeit und den 1950er-Jahren, die die heutige Applausordnung dann so durchgesetzt haben.
Ich habe mal gehört, dass Gustav Mahler das Kartenspielen in den Logen der Staatsoper in Wien verboten hätte. Wissen Sie da etwas drüber?
Toelle: Solche Geschichten gibt es ganz viele. Aus der Zeit der Jahrhundertwende gibt es auch Geschichten aus Italien. Toscanini war ja gleichzeitig mit Mahler als Reformator angetreten - Mahler in Wien und Toscanini in Mailand. Da gab es zum Beispiel die Regel, dass man den Hut abnehmen musste, wenn man in die Oper geht, damit die Leute hinter einem auch etwas sehen. Von daher kann es schon sein, dass Mahler das Kartenspielen während des Stücks verboten hat. Aber in Italien gibt es solche Sachen ja bis heute eigentlich. Also beim Kartenspielen weiß ich es nicht, aber dort werden zum Beispiel immer noch Süßigkeiten während der Oper verkauft. Das sind einfach verschiedene Traditionen - und in Wien kommen die deutsche und italienische Tradition so ein bisschen zusammen. Deswegen kommt uns das jetzt ungewohnt vor. Aber in Wien fand man das damals ganz normal.
Ich war vor einem Jahr wieder in der Wiener Staatsoper, nach langer Pause, und war sehr überrascht, dass es einerseits sehr streng zugeht. Ich wurde wegen eines kleinen Übertritts sofort zur Ordnung gerufen. Andererseits werden in den Pausen noch Touristen durchgeschleust und Last-Minute-Tickets verkauft. Das passt für mich nicht zusammen.
Toelle: Es geht halt ums Geldverdienen.
Wie würden Sie in der Debatte in Norddeutschland ein bisschen für Ruhe sorgen? Wie kann man vernünftig damit umgehen, wenn unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen in ein Konzert kommen?
Toelle: Mit größerer Toleranz auf allen Seiten - und vielleicht mit mehr Vermittlung. Aber das Rad kann glaube ich nicht zurückgedreht werden. Ich bin ganz sicher, dass die klassische Musik im deutschsprachigen Raum, wie gesagt, ihre Mainstream-Fähigkeit wieder beweisen muss. Die Orchester, gerade jene, die öffentlich subventioniert werden, müssen sich wieder mehr auf die Mitte der Gesellschaft zubewegen. Dann müssen sich halt bestimmte Dinge ändern. Diesen Moment nach dem ersten Satz eines Violinkonzerts, wenn eigentlich alles sagt "klatschen, klatschen, klatschen!", und die Leute nur wegen irgendwelcher Konventionen "Pssssst!" sagen - das kann man schon aufgeben, das fände ich jetzt nicht weiter schlimm.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.