Kein Sisyphus am Klavier
Pianist Joe Haider und sein Trio nehmen sich auf transzendierende Weise der Musik von Bill Evans' legendären Village Vanguard Sessions an und liefern eine ebenso frische wie reife Neuinterpretation.
Das ist wirklich spektakulär. Und jeder Pianist von Rang wird als erstes denken: Wenn er sich damit nur nicht überhebt!
Aber der aus Darmstadt stammende Pianist Joe Haider, Jahrgang 1936 und seit Mitte der 1960er Jahre eine der zentralen Persönlichkeiten der westdeutschen Jazz-Moderne, würde sich nie eine Idee ausreden lassen, wenn er selber sie für produktiv und richtig hält. Und so hat er sich jetzt vorgenommen, mit dem aktuellen Trio einen "Achttausender" zu erklettern - und die berühmten Aufnahmen neu zu interpretieren, mit der Klavier-Ikone Bill Evans Meilensteine setzte: die Musik der "Village Vanguard Sessions" vom Sommer 1961.
Bill Evans und Meilensteine
Scott LaFaro war der Bassist, Paul Motian war der Schlagzeuger - und das markierte tatsächlich so etwas wie einen neuen Qualitätsmaßstab in der Kunst des Klavier-Trios: wie durchsichtig schwebend und trotzdem immer kraftvoll und klar. Für viele wurde dieser Maßstab erst Jahre später von Keith Jarretts Trio-Formationen wieder erreicht.
Haider heute, seit langem in der Schweiz zu Hause und zuletzt umtriebiger Jazz-Dozent in Bern, ist nicht mit Jarrett und auch nicht mit Vorbild Evans vergleichbar. Was also will er mit dieser Musik, die er live im kleinen "Marly"-Club im Städtchen Fribourg aufgenommen hat und von der er jetzt zwölf Titel auf gleich zwei CDs veröffentlicht?
Er will den ehren, der am Beginn des eigenen Weges stand. Nichts will er kopieren, auch nichts erfinden, nicht mit Evans über Evans hinausgehen - er will jenem Strom folgen, den Evans mit LaFaro und Motian in jenen New Yorker Nächten vor etwas mehr als 60 Jahren in Bewegung setzten. Haider will - das darf vermutet werden - mit dem eigenen, ganz anders strukturierten Handwerkszeug des in ebenso langer Zeit gereiften Pianisten heraus bekommen, aus welchen Quellen der unvergleichliche Meister damals schöpfte. Deshalb hat er mit Blick von heute die damals wegweisend interpretierten Kompositionen noch einmal ins Visier genommen: Musik von Evans selbst natürlich und von LaFaro, aber auch von Miles Davis und Horace Silver sowie den Komponisten-Klassikern Leonard Bernstein und George Gershwin, Cole Porter, Sammy Fain und Jules Styne.
Joe Haider verneigt sich
Mittendrin brilliert immer die Musik von Evans selbst, die Echo war für sie alle. Mit Bassist Lorenz Beyeler und Tobias Friedli am Schlagzeug versetzt Haider weder das Publikum im "Marly" noch das Publikum vor der Stereo-Anlage wirklich in die besten Evans-Jahre zurück (der Pianist starb 1980, nur 51 Jahre alt), aber er übernimmt sich auch nicht, wird nicht zum Sisyphus am Klavier. Tatsächlich verneigt sich Joe Haider: vor einem, von dem er sich prägen ließ.
"The Bill Evans Village Vanguard Sessions"
- Genre:
- Jazz
- Zusatzinfo:
- 2 CDs
- Label:
- JHM Publishing
- Veröffentlichungsdatum:
- 25.08.2023
- Preis:
- 30,00 €