Synästhesie: Wenn man Musik über Farben wahrnimmt
Wenn die Komponistin Susanne Geisler Klavier spielt, dann sieht sie nicht nur schwarz und weiß vor sich, sondern einen wahren Farbenrausch. Sie ist beschenkt mit der Gabe der Synästhesie. Ein Gespräch.
Frau Geisler, was genau bedeutet Synästhesie?
Susanne Geisler: Synästhesie ist eine Zusammensetzung aus dem Griechischen: "syn" bedeutet "zusammen" und "ästhesie" bedeutet "wahrnehmen". Man nimmt sozusagen verschiedene Dinge gleichzeitig wahr. Was das genau ist, das ist immer unterschiedlich.
Es gibt nicht nur das Sehen von akustischen Phänomen, sondern auch andere Effekte, richtig?
Geisler: Ganz genau. Das Phänomen ist sehr, sehr weit. Es geht so weit, dass wir zum Beispiel Buchstaben und Zahlen über Farben wahrnehmen können, Gerüche als Farbe wahrnehmen können, auch als Form. Das macht die Wahrnehmung zu einer ganz spannenden Sache.
Das ist dann aber individuell - jeder, jede nimmt andere Dinge wahr, oder?
Geisler: Richtig, das ist sehr individuell. Da gibt es immer sehr interessante Streitgespräche unter Synästhetinnen und Synästheten, wer was wie wahrnimmt. Auch Wochentage sind ein typisches Thema: Der Montag ist bei dem einen blau und bei dem anderen rot. Es entstehen sehr interessante Diskussionen.
Mit der eigenen Wahrnehmung ist das so eine Sache. Erst mal muss einem bewusst sein, was man wahrnimmt. Und dann muss man realisieren, dass das bei einem anders ist als bei anderen. Können Sie sich an diese Entwicklung bei sich selber noch erinnern?
Geisler: Ja, das hat tatsächlich sehr lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass das, was ich wahrnehme - zum Beispiel Zahlen als Farben -, etwas ganz Besonderes ist. Das hat auch viel damit zu tun, wie ich in mich hinein spüre, wie ich meine Umwelt erlebe, ob ich mir Zeit für mich nehme. Bei mir ist der erste Bewusstseinsmoment gewesen, als ich im Musikunterricht gemerkt habe, dass ich Noten und das Hören von Klängen farblich einordne, und dass mir das hilft, Musik besser zu verstehen. Das war ein sehr spannender Moment.
Ist das immer ein Vorteil oder kann es Momente geben, wo das nervt?
Geisler: Das hält sich so ein bisschen die Waage. Es hat sehr viele Vorteile: Man kann sich zum Beispiel im Alltag Zahlenkombinationen wahnsinnig schnell merken, weil man sich über die Farbkombination an die verschiedenen Zahlen erinnert. Aber vieles ist auch unkontrolliert. Es entsteht ein Reiz, und dann muss man dafür sorgen, dass man sich im Alltag ein bisschen schützt - Stichwort Bewegung im Verkehr: Wenn es Verkehrsgeräusche gibt und man nicht überreizen möchte, dann muss man sehen, dass man sich Ohrstöpsel besorgt oder anderweitig auf sich aufpasst, dass die Farben nicht überall ausgelöst werden.
Also wohldosiert mit akustischen Reizen umgehen.
Geisler: Ganz genau.
Es gibt ganz viele Dimensionen von Farbe im Klang. Können Sie uns das ein bisschen aufschlüsseln, wann man als Synästhetikerin was wahrnimmt?
Geisler: Es gibt verschiedene Ebenen, und das ist bei jedem ein bisschen anders. Bei mir gibt es zum einen diese visuelle Komponente. Ich sehe die Tastatur meines Klaviers und wie jeder andere Musiker verstehe ich, dass sich auf dieser Tastatur bestimmte Skalen aufmachen. Mit diesen Skalen kommen Drei- oder Vierklänge. Und je nach dem, wie sich bei mir diese Skala über diesen visuellen Moment eingefärbt hat, färben sich auch die Dreiklänge ein. Ich kombiniere dann diese Klänge entsprechend der Farben. Das ist eine Möglichkeit, auch wenn sich zum Beispiel Skalen ändern. Die Dur-Skala hat andere Töne und andere Farbnuancen als zum Beispiel die lydische Skala. Dann orientiere ich mich über diese Farbveränderungen an der Skala entlang, und das macht es sehr spannend. Das ist aber nur eine Seite. Die zweite Seite ist die auditive und die emotionale Seite: Das heißt, über die Wahrnehmung des Klanges kann ich mich entscheiden, in welche Richtung ich gehen möchte. Möchte ich eher in diese olivgrüne Richtung gehen oder eher in die mitternachtsblaue Richtung? Komposition ist für mich so ein schönes Gesamtpaket aus ganz vielen Ebenen: der visuellen Ebene, der auditiven Ebene und auch der emotionalen Ebene, der Stimmungsebene. Das ist ganz großartig.
Wie nutzen Sie das für sich als Musikerin, als Pianistin und Komponistin?
Geisler: Zum einen, um Ideen zu generieren. Wenn ich Farben als Hilfe habe, dann sind das für mich Orientierungsmomente. Ich kann entscheiden, in welche Farbrichtung ich gehen möchte. Ich kann entscheiden, bestimmte Farben zu kombinieren, die man so gar nicht kombinieren würde. Dabei entstehen wunderschöne Ideen und Fragmente, die, wenn ich auf natürlicher oder auf nicht synästhetischer Basis komponiert hätte, so vielleicht gar nicht entstanden wären. Und das macht es so spannend.
In der Fachdidaktik für ganz kleine Kinder lernt man: Sag nicht "hoch" und "tief", sag "hell" und "dunkel", den "hoch" und "tief" sind sehr abstrakte Begriffe. Ist die Art, wie wir über Musik sprechen und sie einordnen, an sich schon zu akademisch und verkompliziert die ganze Sache?
Geisler: Das würde ich bejahen. Ich glaube, wenn wir es schaffen, uns da ein bisschen mehr zu öffnen, dann bietet sich da eine ganz tolle Welt, neu an Musik heranzugehen. Wir müssen aufpassen, uns nicht zu limitieren. Auf der anderen Seite - und das ist auch eine schöne Entwicklung, die die Synästhesie mit sich bringt - lernen wir, neue Worte für Musik zu finden, mit unseren Sinnen zu arbeiten und daraus Beschreibungen zu finden. Das ist eine ganz wundervolle Sache, da ein bisschen zu experimentieren und zu gucken: Was bedeutet Musik für mich? Auf welchen Ebenen empfinde ich Musik?
Das Interview führte Mischa Kreiskott.