Sehnsucht und Seelenschwere
Bachs h-Moll-Messe, Beethovens 9. Sinfonie, Mozarts Zauberflöte: Es gibt Werke der klassischen Musik, die fast jeder schon einmal gehört hat. Aber "Klassik" - das ist viel mehr. Jeder Klassikfan und jeder Musiker hat seine Lieblingsstücke - und erst die ganze Vielfalt macht die Faszination deutlich, die von der klassischen Musik ausgehen kann. Wovon die Mitglieder des NDR Sinfonieorchesters schwärmen, darum geht es künftig einmal im Monat in unserem "Weltwissen Musik". Thema der ersten Folge: der Trompeter Stephan Graf und Tschaikowskys 4. Sinfonie.
Ein Ausrufezeichen, gleich zu Beginn: Peter Tschaikowsky beginnt seine Vierte Sinfonie mit einem markanten Hornmotiv. Kurze Zeit später sind die Trompeten dran. Stephan Graf vom NDR Sinfonieorchester spielt hier die zweite Stimme.
Ein wiederkehrendes Thema
Hier stehen die Bläser im Rampenlicht. Sie spielen eine Hauptrolle im dramatischen Verlauf des Stücks. Viele Trompeter mögen die Vierte von Tschaikowsky deshalb ganz besonders - auch Stephan Graf: "Ich finde es faszinierend, dass dieses Thema - ich weiß nicht, ob man das "Schicksalsthema" nennen kann - am Anfang kommt und dann am Schluss, wenn eigentlich das Fest in vollem Gange ist, wieder dahin führt."
Wie eine Art Motto kehrt die Bläserfanfare im letzten Satz zurück und unterbricht die freudige Stimmung des Finales: "Ich glaube, dass es in dieser Sinfonie immer darum geht: Es ist ein Fest oder eine Leichtigkeit – aber dieses Thema, dieses dramatische Thema, schwebt immer im Hintergrund mit", erklärt Stephan Graf.
Ein schicksalhafter Ton durchzieht und prägt das ganze Stück. Es liegt nahe, da eine Verbindung zur Biografie des Komponisten zu hören - auch wenn man mit der Unterstellung solcher Parallelen zwischen Leben und Schaffen eines Künstlers immer sehr vorsichtig sein muss. In diesem Fall hat Tschaikowsky selbst sich geoutet: "Die Vierte Symphonie ist meinem Wesen entsprungen - es ist darin kein Strich, der nicht meinen aufrichtigsten Gefühlen entstammt", schrieb der Komponist in einem Brief an seine Freundin und Gönnerin Nadeshda von Meck.
Sehnsucht nach glücklichen Momenten
Kurz vor der Entstehung seiner Vierten Sinfonie in den Jahren 1877/78 hatte Tschaikowsky eine ehemalige Schülerin geheiratet - ein verzweifelter Versuch des homosexuellen Komponisten, den gesellschaftlichen Normen der Zeit zu entsprechen.
Doch die offizielle Verleugnung seiner Gefühle stürzte ihn nur noch tiefer in die Krise und mündete in schweren Depressionen und einem Selbstmordversuch. "Ich glaube, solche Emotionen kann man sich nur vorstellen, wenn man in der Jugend selbst mal verliebt war und diese Liebe nicht erwidert war, und man dachte, das ganze Leben ist vorbei", sagt Stephan Graf.
Tschaikowskys Seelenschwere spiegelt sich ebenso in der Musik wie die Sehnsucht nach einem unbeschwerten Leben und die Rückschau auf glückliche Momente. Die Vierte Sinfonie von Tschaikowsky hat eine starke Ausdruckskraft – unabhängig davon, ob man die biografischen Hintergründe kennt oder nicht. Genau das macht für den Trompeter Stephan Graf ihren besonderen Reiz aus: "Was ich bei der Musik so toll finde ist, dass die russische Musik noch sehr stark diese Emotionen ausdrücken kann."
Mit diesem Reichtum an Gefühlen bringe uns die Musik nicht nur Tschaikowsky näher, sie schaffe vielmehr auch ein besseres Verständnis für die Menschen und die Lebensumstände in Russland, sagt Stephan Graf, der selbst in der DDR aufgewachsen ist: "Da bin ich mir ganz sicher, dass man dadurch viel verstehen kann. Denn diese hohe Emotionalität der Musik, die ist dort noch im Leben vertreten, weil es den Leuten noch nicht so gut geht, weil sie andere Zeiten durchlebt haben und nicht so eine lange Zeit der Demokratie. Das ist, glaube ich, etwas, was die russische Seele ausmacht, dass man glücklich sein kann, aber immer weiß: Es kann auch anders sein."