"Das Cabinet des Dr. Caligari": Ex-Kraftwerk-Mitglied vertont Stummfilm
In der Band Kraftwerk war Karl Bartos lange Jahre Keyboarder und Schlagzeuger. Jetzt hat der Musiker "Das Cabinet des Dr. Caligari", den absoluten Klassiker des expressionistischen Stummfilms, komplett neu vertont. Heute wird der Film in der Hamburger Laeiszhallelive von ihm begleitet.
"Dieser Film ist wie Treibsand - wenn man einmal drin steckt, kommt man nicht wieder raus", sagt Karl Bartos. Er muss es wissen. Seit fast 20 Jahren beschäftigt er sich mit diesem legendären Streifen: "Es war der erste Film, den man als Film-Kunstwerk bezeichnete." Das surreale Spiel um den Schlafwandler Cesare, der von Doktor Caligari, seinem Herrn und Meister, zu grausamen Morden angestiftet wird: Es zieht ihn jedes Mal tiefer in die Geschichte hinein. Und eine Frage drängt sich ihm als Musiker auf: Wie hätte wohl die Tonspur geklungen, wenn es sie damals schon gegeben hätte?
Elektroakustische Verfremdung statt Filmorchester
Der Filmmusiker Bartos denkt orchestral. Vor seiner Zeit bei Kraftwerk hat er die Pauke im großen Orchester gespielt. Trotzdem wussten er und sein Klangregie-Partner Matthias Black schnell, dass sie das Ganze nicht mit einem Filmorchester, sondern in elektroakustischer Verfremdung angehen wollten. "Wir sind dann den Weg der Transformation gegangen. Wir haben die Instrumente nachempfunden - zunächst kopiert, aber dann interpretiert. Wir haben das ‘gebastelt’, sagen wir immer."
Tabu in der Stummfilm-Vertonung gebrochen
Irgendwo zwischen Carl Orff, Hitchcocks "Psycho" und, ja, auch Kraftwerks Maschinen-Sound bewegt sich die Musik zum "Cabinet des Dr. Caligari". Mit viel rhythmischem Drive spannt Bartos einen Bogen quer durch die Musikgeschichte. Und dann bricht er ein unausgesprochenes Tabu in der Stummfilm-Vertonung: Der Filmscore enthält neben der Musik selbst jede Menge Geräusche, die die Bilder akustisch unterfüttern.
Der 72-Jährige hat dem Stummfilm gewissermaßen den Ton zurückgegeben: "Die meisten Leute glauben ja, Stummfilme seien damals aus künstlerischen Gründen so gedreht worden. Dabei war die Trennung von Bild und Ton der Zeit geschuldet, weil man die Töne nicht auf Zelluloid gekriegt hat. Und ich habe diese Trennung rückgängig gemacht." Dieser Tabubruch verstärke seiner Ansicht die Wirkung des Filmes enorm.
Sounddesign in Handarbeit im eigenen Haus aufgenommen
"Ich brauchte die Filmmusik, um die Emotionen des Augenblicks zu zeigen. Aber ich brauchte auch die Klänge der Straßen, der Fußtritte der Menschen, das Klopfen, das Klatschen und alle Geräusche, die in diesem Film vorkamen", erzählt der Künstler und fügt hinzu: "Dafür habe ich mein ganzes Haus aufgenommen. Vom Dachboden bis zum Keller. Ich habe an alle Türen geklopft, alle Klinken bewegt - das ist alles reine Handarbeit."
Ein regelrechtes Sounddesign als zusätzliche Ebene, um "die Menschen auch mit in die erzählende Geschichte zu nehmen", so Bartos. "Das macht die Umgebung sofort zugänglich." Es gibt sogar so etwas wie gesprochene Sprache. "Der ganze Film ist ja ein Traum, ein Fiebertraum. Bei mir ist die Sprache im Traum so abstrakt wie Musik. Sie ergibt keinen Sinn. Deshalb habe ich mit verschiedenen Formen der Sprache gearbeitet."
Karl Bartos bei Vorführungen als Musiker dabei
Die ganze Tonspur ist von A bis Z akribisch durchkomponiert und läuft exakt synchron zu den Bildern. Trotzdem will Bartos bei den anstehenden Aufführungen auch selbst vor der Leinwand live als Musiker agieren, als eine Stimme im Orchester sozusagen - und ein bisschen sicher auch, weil das Publikum nach ihm, der Kraftwerk-Legende, verlangen wird .
Aber was hat uns der Film selbst heute nach mehr als 100 Jahren noch zu sagen? Eine ganze Menge, findet der Musiker. Gerade im Zeitalter von alternativen Fakten, Parallelgesellschaften und virtuellen Realitäten. "Vordergründig handelt die Geschichte von der Suche nach der Wahrheit", erklärt Bartos. "Am Ende stellen wir allerdings überrascht fest, dass es viel mehr um das Verschwinden der Wirklichkeit geht. So haben es die Menschen 1920 empfunden. Und genau so empfinden wir heute wieder. Deshalb hat uns das 'Cabinet des Dr. Caligari' auch nach 100 Jahren immer noch etwas zu sagen."