Eine weibliche Skulptur. © Uni Flensburg Foto: Dr. Friederike Rückert
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AUDIO: Kommentar: Wie historisches Denken auf den Hund kommt (4 Min)

Entfernte Skulptur "Primavera": Wie historisches Denken auf den Hund kommt

Stand: 04.08.2023 08:20 Uhr

Weil sich einige durch den Anblick einer nackten Frauenskulptur im Foyer der Universität Flensburg gestört fühlten, ließ die Gleichstellungsbeauftragte sie beseitigen. Andere sammelten über 2.000 Unterschriften für ihre Rückkehr. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anette Schneider

Achtung, Triggerwarnung: Breite Hüften gelten ab sofort als Beleg dafür, dass eine Frau besonders fruchtbar und gebärfähig ist. Die Schlussfolgerung ist sexistisch? An der Universität Flensburg sieht man das offenbar anders. Dort fühlten sich einige Frauen durch das angeblich "ausgeprägte Becken" einer nackten Frauenskulptur im Foyer der Uni - Zitat - "unwohl" - und forderten ihren Abbau.

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Martina Spirgatis, die Gleichstellungs- und Diversitätsbeauftragte der Universität, befand daraufhin: Die Skulptur stehe für ein "überholtes Bild der Weiblichkeit und lege nahe, Weiblichkeit auf Fruchtbarkeit und Gebärfähigkeit zu reduzieren". Sie ließ die Bronzeskulptur verschwinden. Man hofft inständig, dass es die von Unwohlsein gepeinigten Frauen in kein Kunstmuseum verschlägt: die üppigen Weiber eines Rubens, der Hüftschwung von Cranachs Venus, die wallenden Fleischorgien des Barock. Muss das jetzt alles weg?

Selbst wenn es sich in Flensburg um die Übereifrigkeit einiger besonders woker Leute handelt: Universitäten und Museen sind Orte von Wissenschaft, Aufklärung und Bildung. Seit rund 300 Jahren hat sich dabei die Methode des historischen Denkens, die Kunstwerke aus ihren jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontexten heraus beurteilt, bestens bewährt. Nun reicht ein "Unwohlsein", um Kunst aus dem öffentlichen Raum zu verbannen?

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Zeigt Fritz Durings "Primavera" ein überholtes Frauenbild?

Der Bildhauer Fritz During schuf seine Bronzeskulptur 1956 - in der spießigen Enge der Adenauerzeit, die Frauen auf die Rolle von Ehefrau und Mutter reduzierte. During zeigt eine 1,20 Meter hohe junge, nackte Frau, die selbstbewusst mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Schlank aufstrebend, mit kleinem Hüftschwung, schmalem, gelängtem Oberkörper und kleinen Brüsten, hat sie ihre Arme entspannt über dem Kopf verschränkt: in sich ruhend, scheint sie ihr leicht erhobenes Gesicht genießerisch der Sonne zuzuwenden, dem Leben. Diese Skulptur soll ein überholtes Frauenbild zeigen?

During hatte während des Faschismus bei einem verfemten Künstler gelernt. Seine Skulptur nannte er "Primavera", Frühling. Der steht für Aufbruch und Neubeginn. Elf Jahre nach den horrenden Erfahrungen von Krieg und Faschismus zeigt During eine dem Leben zugewandte Figur. Ein hoffnungsvolles Symbol für eine neue, friedliche Zeit.

Schönschreibungen mit fatalen Folgen

Nicht nur in Flensburg hyperventiliert man in Zeiten von "Wokeness" und "Cancel Culture": An der Universität Leiden wurde letzten Winter ein Bild des rauchenden, akademischen Rats von 1976 abgehängt, weil sich eine Doktorandin angesichts der weißen Männerrunde "nicht wohl" fühlte. Während der Metoo-Debatte ließen Museen Gemälde mit nackten Frauen im Depot verschwinden, in Manchester traf es Nymphen aus dem 19. Jahrhundert. Die Diskussionen um Rassismus und Kolonialismus veranlassten Museen, teils jahrhundertealte Kunstwerke umzubenennen: Diffamierende Begriffe wie "Zigeuner" oder "Neger" wurden aus den Bildtiteln gestrichen. In Dresden wurde so aus dem "Kopf eines Negerknaben" der "Studienkopf eines jungen Mannes".

Man könnte diese Schönschreibungen als Kleinigkeiten abtun, hätten sie nicht fatale Folgen: Wer unbequeme Kunstwerke abhängt oder historisch gewachsene Bildtitel verändert, der bügelt Geschichte glatt. Wer historischen Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus unsichtbar macht, anstatt Ursachen zu benennen, erntet Geschichtsvergessenheit. Das gilt auch für fortschrittliche Ideen: Die Verbannung der DDR-Kunst in die Depots soll seit über 30 Jahren die gesellschaftliche Alternative "Sozialismus" vergessen machen. Der Status Quo gilt als Maßstab aller Dinge. Historisches Bewusstsein stört da nur.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 04.08.2023 | 07:20 Uhr

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