Nachgedacht: Mehr Grautöne bitte!
Ob auf Parteitagen ominöser Gruppen oder in den sozialen Medien: Viele Menschen äußern sich nur noch mit Schaum vor dem Mund. Was fehlt, was steckt dahinter?
Seit wann sind uns die Schattierungen abhandengekommen, die grauen? Mausgrau, lausgrau, steingrau, graphitgrau, beamtengrau, aschgrau …? Nein, ich will hier nicht Loriots Ödipussi zitieren und eigentlich sowieso kein Loblied des Graus singen. Wer mich nur ansatzweise kennt, weiß, dass Bunt meine Farbe ist. Aber: Alles ist nur noch schwarz oder weiß, dafür oder dagegen, pro oder contra, gut oder böse - es nervt!
Es gibt keine Zwischentöne mehr!
Kaum sagt jemand etwas, wird nur gejubelt oder dagegen gewettert - gemobbt oder gehypt. Jeder muss sofort eine Meinung zu etwas haben. Ob Gendern, Anglizismen, Recycling, Elterngeld, Migration, Freibäder, Katzenfutter, Armut, Klimawandel, Dreadlocks - die Zusammenstellung erscheint sehr zufällig, aber das macht nichts, denn die meisten Menschen regen sich über alles auf. Reißen vor allem gerne aus dem Kontext. Ist ja auch viel einfacher: ein einzelnes Zitat, aus jedem Zusammenhang herausgerupft, zack! Schon ist die oder der ein Nazi, ein Neokolonialist, eine linke Zecke, ein Rassist, ein kultureller Aneigner. Und dann dieser erbarmungslose Geifer! Die blinde Keiferei dabei! Klappe aufreißen und losschreien! Nichts anderes mehr wahrnehmen! Als ob ein einzelner US-Präsident, der nur in Großbuchstaben geschrieben hat, Vorbild für die ganze sich äußernde Welt gewesen wäre.
"If in doubt play it loud"
Ich möchte an dieser Stelle eine alte Weisheit aus der Rockmusik zitieren: "If in doubt play it loud" - wenn unsicher, dann laut spielen. Je mehr Zweifel, desto lauter brüllen - Unsicherheiten überdecken. Nicht nur den anderen gegenüber, auch sich selbst. Was ich am traurigsten dabei finde: Es geht den Rumbrüllern ja nicht darum, zu diskutieren und am Ende womöglich ihre Meinung geändert zu haben; vielleicht mal die Perspektive des anderen einzunehmen und zu verstehen zu versuchen. Nee. Nur aufregen und nicht bewegen. Seine Position zu verlassen, das macht ja auch Angst: Uuuhu, unbekannt, nicht vertraut, da sind wir wieder bei der Unsicherheit. Laut und unbeweglich dagegen, das gibt Sicherheit.
Eine Übung in Beweglichkeit
Eine Übung in Beweglichkeit, wir üben den springenden Perspektivwechsel: Kopftuch-Diskussion. Eine iranische Sportlerin, die bei einem internationalen Wettbewerb ihr Kopftuch nicht trägt und dafür unglaublichem Druck ausgesetzt ist, gilt es zu feiern, wird in ihrer Heimat doch die Religion als Unterdrückungsinstrument eingesetzt. Je mehr Frauen und Mädchen dort das Kopftuch nicht tragen, desto deutlicher sind die Zeichen des Protestes gegen die Machthaber.
Perspektivwechsel nach Indien: In einigen Landstrichen werden Muslime derart angefeindet, dass ihre Religionsausübung lebensgefährlich sein kann. An den Schulen wurde Hijabverbot verhängt. Wer dort ein Kopftuch trägt, ist mutig und stellt sich den Unterdrückern entgegen. Als bei den Terroranschlägen in Neuseeland ein weißer Rechtsextremist 51 Muslime beim Freitagsgebet umbrachte, banden sich danach neuseeländische Frauen aller Glaubensrichtungen ein Kopftuch um - so wollten sie den Musliminnen zeigen, dass sie ihren Glauben weiter sicher ausüben können sollten. Kopftuch als Zeichen der Solidarität.
"Kontext is king"
Es ist eben eine Frage der Perspektive und des Kontextes - um ein Sprichwort aus Onliner-Kreisen umzumodeln: Kontext is king. Gerne mal versuchen, den anderen zu verstehen, zu hören, auf Grautöne achten - es ist eben meistens viel komplexer als schwarz oder weiß. So sehr wir uns das in unsicheren Zeiten auch mal wünschen. Es ist in Ordnung, auch mal leise zu sein. Nur nicht da, wo viel zu viele schweigen.