Inklusion: Die Kunst ist für alle Menschen da
Seit zehn Jahren ist die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland in Kraft. Seitdem versuchen auch immer mehr Museen, nicht nur Menschen mit körperlichen, sondern auch mit geistigen und psychischen Behinderungen in ihre Häuser einzuladen. Für einen Beitrag in der Reihe NDR Info Perspektiven hat eine NDR Reporterin an einer Führung in der Hamburger Kunsthalle teilgenommen, dort hat ein Pilotprojekt begonnen.
"Der Mann sieht ja fast aus, als wenn das fotografiert wäre. Da kann ja jemand richtig gut zeichnen." - Verblüfft tritt Sascha näher an das Gemälde heran. Er gehört zu einer kleinen Gruppe von Menschen mit geistigen Behinderungen, die Kunstvermittlerin Nicole Buch durch die Sammlung führt: "Was sehen wir?" - "Zwei Männer. Einer sitzt am Tisch. Und der da vorne hat Pinsel in der Hand."
Freude an der Kunst steht im Vordergrund
Im Vordergrund steht der persönliche Zugang, die Freude an der Kunst. Wer das Bild gemalt hat, spielt kein Rolle. Es geht nicht um Namen und Daten, sondern um das Wiedererkennen von Gegenständen, Gesten und Farben und darum, was jeder Einzelne auf den Bildern sieht.
"Das sind Kühe, oder?" - "Richtig. Auf der Weide. Und eine Ziege, das sehe ich jetzt erst. Eine Stadt da hinten." - "Die Stadt kann ich gar nicht erkennen." - "Es gibt noch mehr zu sehen." - "Stimmt. Da ganz hinten vor dem Wald, oder was das da ist, und davor, so Nebel und noch so was Braunes und Weißes irgendwie."
Nicole hat mit ihrem Rollstuhl zuerst weiter hinten gestanden. Als sie sich schließlich weiter nach vorne traut, ist sie überrascht, was sie auf dem Bild alles entdeckt.
Mit allen Sinnen erleben
"Ich habe euch was zum Riechen mitgebracht. Guck mal, ob du was findest, das passt?" - "Ich kann echt nicht sagen, nach was das riecht."
Nach Wiese und Kuh jedenfalls nicht, glaubt Nicole - und blickt die Kunstvermittlerin hilfesuchend an. Diese nickt ihr aufmunternd zu. Nicht alle aus der Gruppe haben Lust, an den Riechdöschen zu schnuppern. Aber das müssen sie auch nicht.
"Ich könnte mir vorstellen, in so einem Haus zu wohnen"
Sascha taut während der Führung regelrecht auf. Ein Gemälde von Max Liebermann interessiert ihn besonders. "Sollen das Tannen sein, diese Bäume da?" - "Würde ich glauben, ja." - "Also hier vorne, gerade diese. Und da ist doch ein Mensch, oder nicht? Und ist das ein Schloss da?" - "Das ist auf jeden Fall ein ziemlich herrschaftliches Haus. Allein schon, dass der Garten so groß ist und mit so einer Auffahrt. Würdet ihr lieber draußen sein und arbeiten, oder lieber drinnen sitzen im Haus und Kaffee trinken?" - "Ich könnte mir vorstellen, in so einem Haus zu wohnen mit Garten und überall Natur, das stelle ich mir gut vor."
Genaue Beobachtungen
Günter hält sich im Hintergrund, er möchte nicht angesprochen werden. Christian kann nicht reden, aber sein Lächeln zeigt, dass ihm der Museumsbesuch Freude macht. An der Hörstation vor dem Gemälde "Wir Drei", der Kopie eines Werks von Philipp Otto Runge, setzt er sich sofort die Kopfhörer auf.
Nicole Buch fordert die anderen Teilnehmer auf, die Szene auf dem Bild nachzustellen. Zuerst genieren sie sich, denn es geht um ein Paar, das sich umarmt, doch dann lassen sie sich darauf ein und zeigen, wie genau sie das Bild angeschaut haben.
Sascha fällt ein fachmännisches Urteil: "Für mich sieht es so aus, als ob es ein Bild ist aus einer älteren Zeit, auch von den Klamotten her, was sie anhaben, als wenn das so, weiß ich nicht, so hundert Jahre her ist - kann auch älter sein."
Selbst zum Pinsel greifen
Am Ende dürfen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst zum Pinsel greifen. "Das können wir hier auch direkt auf dem Teller mischen. Da kommen die Pigmente rein, das ist noch gar nicht fertig gemischt."
Alle machen begeistert mit, auch Christian, der die Hand seines Betreuers bis dahin kaum loslassen mochte. Selbst Günter sitzt nun mit den anderen am Tisch und malt ein Bild - abstrakt in kräftigen Grün- und Blautönen. Nicole dagegen liebt das Konkrete: "Strand, Wasser, Himmel. Jetzt kommen da noch Palmen dazu, die Farben werden gerade gemischt." Und ein rotes Schiff malt sie auch noch hinein.
Das Interesse ist geweckt
Nach einer Stunde präsentieren sie stolz das Ergebnis. Sie würden gerne wiederkommen, die Führung hat ihnen gefallen: "Fand ich sehr gut, dass man hier was gelernt hat und auch selber was machen konnte." - "Ich bin hier immer nur mit der S-Bahn, wenn ich von Altona gekommen bin, vorbeigefahren und habe das Gebäude immer gesehen, aber ich bin hier noch nie drinnen gewesen. Ich finde das interessant, die ganzen Bilder und so."
Nicole Buch ist auch zufrieden. Und das zu Recht. Das Pilotprojekt der Hamburger Kunsthalle hat gezeigt, dass eine kompetente Vermittlung auch Menschen mit geistiger Behinderung einen Zugang zur Kunst ermöglicht. Inklusion im Museum funktioniert, doch das kostet Geld. Und daran mangelt es bislang noch.