Graphic Novels von Birgit Weyhe: Suche nach Zugehörigkeit
Lange Zeit galten die Bücher von Birgit Weyhe als Geheimtipp. Mittlerweile ist die Hamburger Comic-Zeichnerin in der Szene mit Büchern wie "Madgermanes" oder "Rude girl" zu einer festen Größe geworden.
In Uganda setzt die Erinnerung von Birgit Weyhe ein. Damals, vor rund 50 Jahren, als kleines Mädchen in einem englischen Kindergarten. "An den Kindergarten erinnere ich mich tatsächlich nur an eine Sache gerne, nämlich an das Malen", erzählt Weyhe. Ein Ort, an dem sie anfangs kaum ein Wort verstand und wo es an der Tagesordnung war, wenn sich Kinder nicht benommen hatten, dass sie geschlagen wurden. "Das Malen war dann draußen im Garten. Wir haben ganz viel Farbe gekriegt. Das Papier wurde auf den Rasen gelegt und wir konnten da machen, was wir wollten - auch Dreck. Das war wirklich schön. Das erste Mal, dass ich mich erinnere, dass ich das als etwas wahnsinnig Schönes empfand, dieses Zeichnen."
Papier und Zeichenstifte geben Halt in der Kindheit
Nach dem Kindergarten ging es in dem ostafrikanischen Land in die Grundschule. Ihre Mutter war gerade 20 Jahre alt und es war die Hippie-Zeit, also zog sie immer weiter. Oft musste sie die Schule wechseln. Kenia, die Seychellen, das Tessin - ohne die dortige Sprache zu sprechen. Nie länger als ein Jahr an einem Ort.
Zeichenstift und Papier hatte sie aber immer dabei und so konnte sie sich beschäftigen. "Ich hatte immer Erinnerungsbücher, wo ich alles Mögliche reingeklebt, -gezeichnet und später, als ich älter war, -geschrieben habe." In der vierten Klasse wechselt sie drei Mal die Schule. Kaum Zeit, wirklich Wurzeln zu fassen.
Der indirekte Weg zum Comic
Der permanente Ortswechsel hat sie zu einer Art Einzelgängerin werden lassen, meint sie rückblickend. "Aber ich war gerne für mich und habe vor mich hin gepinselt, gelesen, gezeichnet, was auch immer. Das ist natürlich auch eine ideale Voraussetzung für eine Comic-Zeichnerin, dass man gerne alleine ist und vor sich hin puzzelt."
Dennoch führt der Weg für Birgit Weyhe nicht direkt zum Comic. Mit 19 Jahren landet sie in München. Doch die bayerische Landeshauptstadt und sie werden nicht warm miteinander. "Diese Stadt war so so aalglatt, so selbstverliebt und für mich nicht durchschaubar. Auch dadurch, dass ich kein Bayerisch gesprochen habe, war immer klar, ich gehöre nicht dazu." Sie fühlt sich verloren in der Stadt und an der Kunstschule.
Literatur und Geschichte statt Kreativität und Selbstfindung
Trotz der Liebe zum Zeichnen geht sie auf Nummer sicher und studiert Literatur und Geschichte in Konstanz und später in Hamburg. Allerdings macht sie das alles andere als glücklich. "Ich dachte immer noch, Literatur ist ja auch etwas Kreatives. Aber ein Literaturstudium ist das Gegenteil von kreativ, weil das komplett reglementiert ist." Zwar hatte sie den Magister in der Tasche, doch was damit anfangen? "Ich wollte nicht Lehrerin werden, das war klar. Und dann dachte ich mir, ich muss nochmal probieren, an die Kunsthochschule zu kommen."
Mittlerweile war die erste Tochter da. Also musste auch Geld zum Leben her. Der freie Kunstmarkt fiel damit flach. "Und dann dachte ich mir, okay: Illustration. Dann mache ich Kinderbücher." An der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) stößt sie auf Anke Feuchtenberger, die dort grafisches Erzählen unterrichtet - ihre Berührung mit dem Genre Comic. "Es hat mich wie ein Komet getroffen. Denn ich kann von mir erzählen, meine eigene Art zu zeichnen finden und ich kann Bild und Text kombinieren. Bingo!"
Birgit Weyhe: Vom Geheimtipp zur etablierten Zeichnerin
Für Birgit Weyhe ist es ein großes Glück, dass Anke Feuchtenberger mit dem Mami Verlag einen Ort gegründet hat, an dem Absolventinnen und Absolventen Arbeiten veröffentlichen können und somit ein wichtiges öffentliches Forum bekommen - ein Forum, auf das viele Insider schauen. Einer von ihnen ist Andreas Platthaus von der FAZ. Er ist dort verantwortlicher Redakteur für Literatur und literarisches Leben - in Insiderkreisen auch Comic-Papst genannt.
Er schreibt: "Weyhe gelingt es wunderbar, das Changieren zwischen Phantastischem und Realem auch graphisch auszudrücken. (...) Auf Birgit Weyhe müssen wir achten." Die Branche horcht auf. Was folgt, ist der heißbegehrte Leibinger Preis für ihr Buch "Madgermanes". Dafür erhält sie auch den renommierten Max und Moritz-Peis in der Sparte "Bester deutschsprachiger Comic". Von da an ist sie kein Geheimtipp mehr.
Zugehörigkeit und Identität im Fokus
Ihre Bücher drehen sich thematisch um die Frage nach Zugehörigkeit und Identität. Ob in "Reigen" (Avant Verlag 2011), "Madgermanes" (Avant Verlag 2016), "Lebenslinien" (Avant Verlag 2020) und ganz aktuell "Rude girl" (Avant Verlag 2022): Birgit Weyhe hinterfragt den Zustand des Seins. Auch das gerade in dieser Zeit umstrittene Thema der kulturellen Aneignung lässt sie nicht aus und behandelt es in "Rude girl" - die schon als kleines Mädchen in Afrika und Europa gleichzeitig gelebt hat.
Aus dem wurzellosen Kind ist eine Frau geworden, die nicht mehr reisen muss. "Ich war letzten Herbst noch einmal für ein ganz tolles Projekt in verschiedenen afrikanischen Ländern und hab da Workshops für Africomics gegeben. Als ich zurückgekommen bin, da habe ich festgestellt: Das ist das erste Mal, dass ich nach Hamburg komme und denke, das ist wirklich mein Zuhause. Und es war schön, wieder da zu sein, wo ich auch Vieles noch kannte und Vieles vertraut war. Aber irgendwie bin ich doch jetzt hier angekommen, kaum waren 30 Jahre vergangen", sagt sie und lacht herzlich.
Aus der Not eine Tugend machen
Birgit Weyhe arbeitet ganz oldschool am Schreibtisch mit Leuchttisch. Die ersten Zeichnungen entstehen auf Papier. Bleistift, später dann Tusche. Ihre Bilder wirken wie kleine Holzschnitte: harte Outlines, scharfe Kontraste, keine Verläufe. Ihre Darstellungen schöpft sie aus ihrer Vergangenheit. In Afrika ist sie mit signalhaften Bildern aufgewachsen und das hat geprägt, sagt sie: "An die Häuser war gemalt, was sie verkaufen und was drin zu haben ist. Also einfachste Dinge, dass ich wusste: Ahh, hier gibt es Cola und da kann ich zum Friseur gehen."
Aber ihr Stil hat auch ganz einfache andere Gründe: zum einen der Mangel an Möglichkeiten in ihrer Kindheit und "da muss ich ganz ehrlich sein: auch ein Mangel an Können. Beim Zeichnen zum Beispiel: Ich habe ein Problem mit Perspektive und Raum. Deswegen dachte ich immer, ich lass den jetzt vielleicht mal weg, weil ich sonst drei Stunden mit der Flucht rumeiere. Dann tue ich einfach so, als ob ich das gar nicht brauche. Wer braucht schon Raum? Irgendwie ist quasi aus dieser Not eine Tugend geworden." Eine Tugend, die viele Freunde gefunden hat, aber vor allem auch ihr die Möglichkeit gibt, Emotionen und Gedanken anders darzustellen.
Wunsch nach sicherer Zeichen-Zukunft
Fast alle wichtigen Preise hat sie bereits bekommen: vom Leibinger Preis über den Lessing Preis bis hin zum Max und Moritz-Preis. "Ich mache es ja nicht, um Preise zu bekommen. Trotzdem sind Preise toll, weil man sichtbar wird und weil es manchmal Geld gibt - das ist besonders schön. Aber ich würde einfach gerne gute Bücher machen, mit denen ich zufrieden bin und von denen ich das Gefühl habe, das Publikum kann damit auch was anfangen."
Denn wenn es dem Publikum nicht gefällt, bleiben die Verkaufszahlen aus und davon lebt nun mal eine Autorin. "Mein Wunsch ist es, dass ich es mir leisten kann, noch lange weiter zu zeichnen, weil es ein wahnsinnig anstrengender Kampf ist, immer genug Geld zu kriegen, um das nächste Buch machen zu können." Ein Buch muss aber auf alle Fälle noch erzählt und gezeichnet werden. Es hat mit Birgit Weyhe selbst zu tun: "Aber da muss ich noch ein bisschen älter werden", sagt sie und lächelt versonnen.
Deutscher Literaturfond fördert ihr "Schweigen"
2024 erhält Birgit Wehye mit fünf anderen Zeichnerinnen und Zeichnern ein Werkstipendium vom Deutschen Literaturfond. Bis zu zwölf Monate sind ihr damit monatlich 3.000 Euro Förderung sicher. Unterstützt wird ihr Buch mit dem Arbeitstitel "Schweigen". Das Buch beschreibt durch die Lebensgeschichten von Ellen Marx und Elisabeth Käsemann die Auswirkungen der argentinischen Militärdiktatur und deren Aufarbeitung in Argentinien und Deutschland. "Anhand der beiden Biografien lassen sich die politischen Verstrickungen von Deutschland und Argentinien gut zeigen“, sagt Weyhe dem Tagesspiegel - "und auch, wie wichtig das Erinnern und die Aufarbeitung des Geschehenen ist."