Der Verteidiger (Bernhard Schütz) in Nahaufnahme vor den Angeklagten. © Leonine Distribution GmbH
Der Verteidiger (Bernhard Schütz) in Nahaufnahme vor den Angeklagten. © Leonine Distribution GmbH
Der Verteidiger (Bernhard Schütz) in Nahaufnahme vor den Angeklagten. © Leonine Distribution GmbH
AUDIO: "Die Ermittlung": zutiefst bewegender Film über Auschwitzprozess (4 Min)

"Die Ermittlung": Bewegender Film über Auschwitzprozess

Stand: 22.07.2024 08:22 Uhr

Der Regisseur RP Kahl hat das berühmte Theaterstück "Die Ermittlung" von Peter Weiss mit einem großartigen Cast verfilmt - ein Hybrid aus Theater und Kino über den ersten Frankfurter Auschwitzprozess.

von Walli Müller

Alternativ zur vierstündigen Fassung gibt es eine Drei-Stunden-Version, die dann auch für ein jüngeres Publikum besser durchzuhalten ist. Der "Gerichtssaal" ist erkennbar ein Fernseh-Studio, die Ausstattung aufs Wesentliche reduziert. Richter, Staatsanwalt und Verteidiger sitzen vor Aktenordnern an Tischen - auf einer Tribüne im Hintergrund 18 Angeklagte.

Im Vordergrund treten die Zeugen und Zeuginnen vor Steh-Mikrophone. In elf Kapiteln - Weiss nennt sie "Gesänge" - schildern sie den Weg der Gefangenen von der Rampe bis in die Gaskammern.

Vom Fenster meines Arbeitszimmers aus konnte ich den oberen Teil der Rampe und den Weg zum Krematorium überblicken. Die Menschen kamen in Fünferreihen an, die Kranken fuhren auf Lastwagen hinterher. Filmzitat Zeuge

Ganz nah dran an den Gesichtern

Für das Schauspiel-Ensemble war "Die Ermittlung" mehr Theater- als Film-Projekt. Drei Wochen lang wurde intensiv geprobt, nur fünf Tage gedreht. Aber Regisseur RP Kahl weiß die Mittel des Kinos doch sehr bewusst einzusetzen: Die 39 Zeugenaussagen lässt er - anders als im Theater - auch von 39 verschiedenen Personen sprechen. Jede Szene ist mit acht Kameras gedreht. "Wir können permanent in die Gesichter schauen. Wir können ganz nah dran sein, was man beim Theater nicht kann", erläutert Kahl. "Wir können Gleichzeitigkeit erzählen. Was macht der eine, was macht der andere zur fast gleichen Zeit, indem ich umschneide."

Der Schauspieler Tom Wlaschiha im Anzug, hinter ihm ein Scheinwerfer. © Leonine Distribution GmbH
Die Kamera kommt ganz nah an die Gesichter heran, hier an den Schauspieler Tom Wlaschiha, der einen Augenzeugen darstellt.

Oft ist es gerade die Reaktion der Angeklagten auf einen Zeugenbericht, die besonders erschüttert. Im Zentrum des Stücks aber steht das unermessliche Leid der Häftlinge. Peter Weiss fand für das, was eigentlich unsagbar ist, eine so klare und sachliche Sprache, dass die Aussagen nicht noch durch emotionale Ausbrüche der Schauspielenden untermauert werden müssen. Während der Proben entschied sich das Ensemble bewusst dafür, die Texte nüchtern zu präsentieren und im wahrsten Sinne für sich sprechen zu lassen.

Überleben konnte nur der, dem es während der ersten Wochen gelang, irgendeinen Innendienst zu bekommen. Durch die Ernennung zu einer Hilfsfunktion. Ich war Häftlingsarzt. Filmzitat Zeuge

Texte von totaler Entmenschlichung im Lager

Von der totalen Entmenschlichung im Lager, vom Zwang, als Opfer unter Opfern noch seinen Vorteil suchen zu müssen, berichtet auch Barbara Philipp, die die Zeugin 10 spielt. Eine unglaubliche Herausforderung, solche Texte über die Lippen zu bringen. "Das ging ja allen so. Also während dieser einen Woche Dreh gab es ganz oft auch kleine Zusammenbrüche von verschiedenen Darstellern, weil man das irgendwann auch nicht mehr ausgehalten hat", sagt Philipp.

Das Theaterstück "Die Ermittlung" hatte 1965 Uraufführung. Wenn man sich fast 60 Jahre später nun den Film dazu anschaut, begreift man wieder, was Peter Weiss damals geleistet hat: Die Essenz von 183 Verhandlungstagen in einem vierstündigen Stück erfasst, dabei das ganze Ausmaß an Grauen zur Sprache gebracht und auf der anderen Seite "die zweite Schuld": Das dreiste Leugnen der Angeklagten.

Verteidiger: Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass unsere Mandanten die Teilnahme an diesen Vorgängen bestreiten.
Staatsanwalt: Angeklagter Mulka, wussten Sie nicht von den Massentötungen in den Gaskammern?
Angeklager: Davon war mir nichts bekannt.

"Hätte schreien können vor Wut"

Der Schauspieler Clemens Schick sitzt in Robe an einem Schreibtisch hinter einem Mikrofon. © Leonine Distribution GmbH
Der Schauspieler Clemens Schick musste sich als Staatsanwalt im Film oft zurückhalten.

Clemens Schick verkörpert als Staatsanwalt immerhin den Willen zur Aufklärung. Aber auch ihm verlangte die Rolle maximale Zurückhaltung ab. "Peter Weiss hat den oft stumm bleiben lassen an Stellen, wo ich hätte schreien können vor Wut", erzählt Schick. "Aber in dem Augenblick hatte ich keinen Text, und das musste ich lernen auszuhalten." Als politisch denkendem Menschen liegt Clemens Schick dieser Film besonders am Herzen, "weil er zeigt, wie viele kleine Entscheidungen gegen Menschlichkeit, gegen Verantwortungsübernahme dazu führen können, dass sowas entsteht wie Auschwitz", sagt er.

Mit neuen filmischen Formen Geschichte ins Bewusstsein rufen

Dass das Publikum hier nicht emotional überwältigt, sondern mit reinen Fakten konfrontiert wird, verstärkt sogar noch die Wirkung des Stücks. Spätestens, wenn im elften Gesang Tom Wlaschiha als Augenzeuge von der industriellen Tötung in den Gaskammern erzählt, bricht man innerlich ohnehin zusammen.

Der Lokomotivpfiff vorm Einfahrtstor zur Rampe war das Signal, dass ein neuer Transport eintraf. Das bedeutete, dass in etwa einer Stunde die Öfen voll gebrauchsfähig sein mussten. Filmzitat Zeuge

Diese völlig andere Art der filmischen Aufarbeitung kann und muss künftig bereits vorhandene Werke wie "Schindlers Liste" ergänzen. Davon ist der Regisseur RP Kahl überzeugt. "Die Zeugen aus erster Hand können uns das jetzt nicht mehr berichten. Also müssen wir uns neue filmische Formen ausdenken, wie wir das auch immer wieder in unser Bewusstsein rufen können", betont Kahl. Das perfekte Drehbuch dazu hat 1965 schon Peter Weiss geschrieben. Und RP Kahl hat mit seinem großartigen Cast einen zutiefst bewegenden Film daraus gemacht.

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Die Ermittlung

Genre:
Drama
Produktionsjahr:
2024
Regie:
RP Kahl
Länge:
240 Minuten oder 186 Minuten (gekürzte Fassung)
FSK:
12
Kinostart:
25. Juli

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Infoprogramm | 22.07.2024 | 08:55 Uhr

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