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Sandra Hüller: "Finde jede Art von Vereinfachung des Lebens gefährlich"

Stand: 26.01.2024 15:37 Uhr

Mit zwei Filmen hat Sandra Hüller im Mai in Cannes für Aufsehen gesorgt, "Anatomie eines Falls" gewann die Goldene Palme. Sie hat das Drama beim Filmfest Hamburg vorgestellt und mit NDR Kultur gesprochen.

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Justine Triet ist erst die dritte Frau in der Geschichte des Filmfests Cannes, die eine Goldene Palme gewonnen hat. Die 44-Jährige Drehbuchautorin und Regisseurin hat die Rolle einer Schriftstellerin und Mutter vor Gericht in ihrem Siegerbeitrag "Anatomie eines Falls" gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Arthur Harari für Sandra Hüller geschrieben. NDR Kultur hat die 45-jährige Schauspielerin Hüller in Hamburg getroffen. Dort hat ihr das Filmfest Hamburg den Douglas Sirk Preis verliehen.

eine Frau im Gespräch mit einer Journalistin am roten Teppich - Schauspielerin Sandra Hüller vor der Preisverleihung zum Douglas Sirk Preis 2023 des Filmfests Hamburg © NDR Foto: Patricia Batlle
Die Schauspielerin Sandra Hüller am roten Teppich zur Preisverleihung für ihren den Douglas Sirk Preis 2023 beim Filmfest Hamburg.

Vor der Preisverleihung - und lange vor ihrer Oscarnominierung - hat Sandra Hüller hat über ihre Filme "Anatomie eines Falls" und "The Zone of Interest", über Wahrheit und Ambiguität und über Auszeichnungen wie den Douglas Sirk Preis und die Oscars gesprochen.

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie jetzt den Song "P.I.M.P" in der Instrumentalversion von 50 Cent hören, der im Film "Anatomie eines Falls" so eine bedeutende Rolle hat? Es ist das Lied, das in den ersten Szenen des Filmes erklingt, in denen der Ehemann der Schriftstellerin Sandra zu Tode kommt.

Sandra Hüller: Ich denke natürlich immer an den Film. Das ist jetzt automatisch miteinander verknüpft.

Der Film von Justine Triet, die die Rolle für Sie geschrieben hat, hat die Goldene Palme in Cannes gewonnen, wird bei zahlreichen Festivals weltweit gespielt. In den USA hat der Film einen bedeutenden Verleih erhalten. Beim Label "Neon" waren bislang Oscarsieger wie "I Tonya", "Spencer", "Border" und "Parasite" zu sehen. Wie geht es Ihnen mit dem Erfolg?

Hüller: Erst einmal freue ich mich darüber, dass der Film so viel Anerkennung bekommt. Ja, mehr ist nicht zu sagen, das ist eigentlich alles.

Wie war es, auf Französisch zu arbeiten? Im Film steht Ihre Figur Sandra vor Gericht, ihr wird gesagt, sie müsste dort auf Französisch sprechen. Es gibt einen Moment, wo Ihre Figur das bricht, wo sie auf Englisch spricht. Vielleicht, um die Richterin in eine Richtung zu schubsen …

Hüller: Was meinen Sie? In welche Richtung?

Dass das Englisch eine gewisse Verteidigungsstrategie ist.

Hüller: Ich glaube, sie wechselt die Sprache, weil sie da tatsächlich nicht weiterkommt mit Französisch, weil es zu kompliziert wird zu erklären, was zu so emotional ist. Aber um auf den Ursprung der Frage zu kommen: Ich fand es eine ganz tolle Herausforderung, auf Französisch zu arbeiten. Ich finde allgemein Sprachen total interessant und beschäftige mich auch privat damit. Ich mag es einfach, andere Sprachen sprechen zu können oder herauszufinden, wie die funktionieren.

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Der Film spielt vor Gericht. Die Autorin Sandra steht unter Mordverdacht und muss sich verteidigen, ob Ihr Ehemann aus dem oberen Stockwerk des Ferienhauses in den Bergen gestürzt ist, ob sie vielleicht mit ihm gekämpft oder ihn sogar geschubst hat. Falls sie schuldig gesprochen werden würde, würde der gemeinsame, sehbehinderte Sohn Daniel (Milo Machado Graner) ohne Eltern weiterleben müssen. Wie haben Sie das gespielt - mit einer Gewissheit, dass sie es vielleicht getan hat - oder eher nicht?

Hüller: Ich habe mich das nicht die ganze Zeit gefragt. Es gab so einen Moment, wo ich das von der Regisseurin und Autorin des Buches Justine Triet wissen wollte, weil ich dachte, das sei wichtig fürs Spiel. Ich habe dann aber gemerkt, es ist nicht so wichtig. Sie hat es mir auch nicht beantwortet.

Ich habe mir irgendwann gedacht, dass die Figur für sich denken muss, sie ist unschuldig. Das ist das Wichtigste. Dass sie überzeugen will und überzeugend sein will. Dass sie nicht will, dass ihr Sohn alleine aufwächst. Davon bin ich ausgegangen. Und ich habe entschieden, dass sie immer die Wahrheit sagt. Mir war es einfach wichtig, dass ich nichts mache, was ich nicht selber glaube. Das ist eigentlich immer so.

Sie haben beim Filmfest Cannes in zwei der Filmen mitgespielt, die die wichtigsten Preise bekommen haben. Neben "Anatomie eines Falls" ist es auch das Drama des Briten Jonathan Glazer "The Zone of Interest", in dem Sie Hedwig Höss spielen, die Frau des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss. Beide Filme haben in den USA einen Verleih. Sie stellen sie auch persönlich in Übersee vor. Was für ein Gefühl oder ein Druck ist das, die Erwartung, dass einer der Filme vielleicht Oscar nominiert wird?

Hüller: Wir haben in Nordamerika Premieren mit beiden Filmen nacheinander. Erst mit "Anatomie eines Falls" und dann mit "Zone of Interest". Ja, was soll ich dazu sagen? Das, was Sie jetzt beschreiben, liegt nicht so richtig in meiner Hand. Ich habe mit "Toni Erdmann" eine Erfahrung gemacht, dass das alles ganz schön viel Gerede sein kann. Deswegen bin ich damit sehr vorsichtig, was diese predictions angeht.

Wie haben Sie die unterschiedliche Körpersprache der beiden Frauen in "The Zone of Interest" von Jonathan Glazer, angelegt, in dem Sie sich viel freier bewegen, als im Gerichtsfilm "Anatomie eines Falls"? Darin sitzen und stehen Sie viel mehr.

Sandra Hüller (2.v.r.) als Mutter der Familie Höss hält im Outfit der 40er-Jahre mit hochgesteckten Haaren ein Baby mit Haube in ein Blumenbeet - Szene aus dem Spielfilm "The Zone of Interest" von Jonathan Glazer © Leonine
In "Zone of Interest" von Jonathan Glazer spielt Sandra Hüller die Ehefrau von Rudolf Höss. Die mehrfache Mutter liebt ihren Garten und ihre Kinder - und lebt direkt am KZ Auschwitz.

Hüller: Also grundsätzlich ist es so, dass beides Körpersprache ist, auch wenn man sitzt und steht. Und dass ich mir auch da überlegen muss, ob Sandra eingeknickt oder gerade sitzt, ob die Beine überschlagen sind oder offen, ob sie die Hände faltet oder vor der Brust verschränkt. Das sind alles Entscheidungen, die man trifft.

Aber es ist tatsächlich so, dass die Arbeit an der Hedwig Höss mehr eine körperlichere war, als die an Sandra. Das ist eher eine inhaltliche Arbeit, die da stattgefunden hat oder eben eine Arbeit an der Sprache. Aber die Hedwig Höss ist für mich auch eher eine Hülle gewesen von etwas, und deswegen habe ich sie auf äußerlich angelegt, wenn man das so sagen kann. Ich habe das Wort noch nie benutzt.

Für was für eine Hülle stand sie denn?

Hüller: Für ihre körperliche Hülle, also die Art, wie sie geht oder wie sie Sachen benutzt, anfasst oder beim Erzeugen von einer größeren Grobheit, als ich die jetzt in meinem Leben haben wollen würde, gleichzeitig von einer Bäuerlichkeit, aber auch von einer mehrfachen Mutterschaft. Das sind alles so Sachen, die ich über ihr Leben wusste. Mit denen habe ich mich beschäftigt.

Sie haben, glaube ich, länger gezögert, diese Rolle anzunehmen?

Hüller. Ja, genau. Weil das jetzt nicht mehr mein Wunsch war, Hedwig Höss zu spielen oder irgendeine Faschistin in meinem Leben. Das ist ein Gedankengut, mit dem ich mich nicht so gern beschäftige oder wo ich eher damit beschäftigt bin, dagegen zu sprechen in meinem Leben. Oder diese Weltsicht zu widerlegen. Deswegen war das jetzt überraschend und ich musste mir einfach gut überlegen, ob ich mich damit beschäftigen möchte - so eine lange Zeit.

 

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Welche Gründe haben noch für die Rolle der Sandra in Justine Triets Film gesprochen? Einige Kritiken behaupten, sie sei nicht so einfach zu lesen.

Hüller: Ich finde die ja eigentlich sehr klar. Mir wird lustigerweise auch oft von Männern beschrieben, dass sie schwer zu lesen ist. Ich kann sagen, dass ich mich bemüht habe, dass sie sehr transparent ist in dem, was sie sagt und tut. Dadurch, dass ich mich entschieden habe, dass sie immer die Wahrheit sagt, macht sie das eben auch.

Ich finde, Menschen sind ambivalent. Alle. Natürlich mag ich Figuren lieber, die das auch abbilden. Ich finde jede Art von Vereinfachung des Lebens gefährlich. Da sind wir auch wieder bei "The Zone of Interest". Ich finde jede Art von Kategorisierung schwierig bis gefährlich. Weil sie immer etwas mit Bewertung und potenzieller Ablehnung, mit Ausschluss zu tun hat. Deswegen finde ich: Je ambiger eine Figur ist, desto mehr bildet sie das Leben ab. Desto reicher macht sie das Leben. 

Sandra Hüller (2.v.r.) als Mutter der Familie Höss hält im Outfit der 40er-Jahre mit hochgesteckten Haaren ein Baby mit Haube in ein Blumenbeet - Szene aus dem Spielfilm "The Zone of Interest" von Jonathan Glazer © Leonine
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Neben dem Sohn, der eine entscheidende Rolle im Film hat, spielt auch ein Hund eine präsente Rolle. Er ist auch das Erste, was man hört, wenn der Film mit dunkler Leinwand startet: das Hecheln des Hundes. Wie empfinden Sie seine Bedeutung für den Film?

Hüller: Er ist Teil dieser Kriminalgeschichte, wenn man das so nennen will. Er spielt auch eine Rolle beim Herausfinden der Wahrheit. Wenn es die denn gibt. Und ist vielleicht das einzige unschuldige Wesen in der ganzen Erzählung. Das fand ich immer so frappant daran.

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Hüller: Es ist ja echt viel gewesen. Das war auch dieses Jahr, stimmt!

Nun haben Sie den Douglas Sirk-Preis des Filmfests Hamburg erhalten. Erst als zweite deutsche Schauspielerin nach Nina Hoss, die ein Jahr vor Ihnen die Schauspielschule Ernst Busch absolviert hat. Was bedeutet Ihnen der Preis und was die Stadt Hamburg?

Hüller: Meine beste Freundin lebt hier, ich bin immer gern hierher gekommen. Ich finde, es ist eine sehr offene Stadt, was ja auch am Hafen liegt, dadurch, dass alle Welt hier irgendwie gelandet ist. Deswegen fühle ich mich Hamburg verbunden. Der Preis ist eine tolle Überraschung gewesen. Ich fühle mich sehr geehrt, und finde es besonders, mit Nina in einer Reihe da zu stehen und mit allen anderen, die ihn auch bekommen haben. Das gefällt mir gut.

Das Gespräch führte Patricia Batlle, NDR Kultur.

"The Zone of Interest" startet am 29. Februar 2024 im Verleih von Leonine Films. Sandra Hüller ist in den USA von der National Society of Film Critics zur besten Schauspielerin gekürt worden, sie war auch als beste Schauspielerin für einen Golden Globe nominiert. Nachtrag d. Red.: Seit dem 23. Januar steht fest: Sandra Hüller ist als Beste Schauspielerin für einen Oscar nominiert, beide Filme, um die es im Gespräch geht, sind für mehrere Oscars nominiert, darunter in der Königsklasse "bester Film".

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 01.11.2023 | 07:20 Uhr

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