Zwei Frauen mit Babybäuchen auf der Bühne des Thalia Theaters © Thalia Theater / Krafft Angerer Foto: Krafft Angerer

"Meine geniale Freundin" am Thalia Theater geht unter die Haut

Stand: 29.09.2023 09:59 Uhr

Mehr als zehn Millionen Leser und Leserinnen weltweit hat die "Neapolitanische Saga" der Bestsellerautorin Elena Ferrante. "Meine geniale Freundin" hat nun im Hamburger Thalia Theater Premiere gefeiert.

von Peter Helling

Freundschaft, durch Dick und Dünn - an diesem Abend wird klar: Sie ist mehr als tiefe Sympathie, mehr als schöne Erinnerungen. Sie ist auch Gewalt - Gewalt, die zum Weiterleben zwingt.

"Bleib hier, friss nicht alles in dich hinein. Komm, komm, komm! Du solltest dir die Dinge von der Seele reden!" Bühnenzitat

Elena packt Lila am Kopf, reißt sie an sich, wie um zu sagen: Gib nicht auf! Rosa Thormeyer und Anna Blomeier - wie Spiegelbilder: langes dunkles Haar, enger Rock, Bluse - spielen bis in die kleinste Faser glaubwürdig. Grund für Lilas Verzweiflung: Ihre kleine Tochter ist verschwunden. Nichts ist mehr wie früher.

VIDEO: Thalia Theater inszeniert Bestseller von Elena Ferrante (3 Min)

Elena Ferrantes "Meine geniale Freundin" im Thalia Theater

An diesem mit drei Stunden langen, aber nicht zu langen Abend im Thalia Theater wird pausenlos geredet. Elena Ferrantes vierter und letzter Roman "Die Geschichte des verlorenen Kindes" ihrer "Neapolitanischen Saga" ist die Grundlage. Regisseurin Ewelina Marciniak erzeugt einen erzählerischen Fluss, der vom ersten Moment an unter die Haut geht: Die Bühne sieht bis zur Pause aus wie ein superschickes Loft in edlem Siena-Rot mit Bücherregalen bis in den Bühnenhimmel.

Die Story kann man auch ohne die Bücher gelesen zu haben verstehen: Elena und Lila sind Schulfreundinnen aus Neapel. Elena ging weg, um als Schriftstellerin Karriere zu machen. Lila blieb in Neapel.

Zwischen Mafia-Story und Surrealismus

Elena Ferrante: "Die Geschichte des verlorenen Kindes" (Buchcover) © Suhrkamp
Elena Ferrantes "Die Geschichte des verlorenen Kindes" ist 2018 im Suhrkamp Verlag erschienen. Der Roman ist Band 4 der "Neapolitanischen Saga".

Die Handlung beginnt wie ein Rückblick, als Elena sich entschließt, ihren Mann und Vater ihrer Töchter zu verlassen. Sie zieht mit ihrem Liebhaber zurück nach Neapel, eine Stadt, die hier von vornherein als schön, tödlich und porös erscheint - bis hin zu einem Erdbeben! Das wird hier zu einem echten Bühnen-Happening. "Die Bühnenszenen haben mir gut gefallen, wie zum Beispiel die Darstellung des Erdbebens. Manchmal hat mich die Kreativität ein bisschen überfordert", findet eine Zuschauerin.

In Neapel treffen sich die Freundinnen wieder. Beide werden gleichzeitig schwanger - Elena kommt wegen ihrer Bücher in Konflikt mit der Mafia. Das ist beinahe fernsehrealistisch gespielt, hat aber immer surreale Einsprengsel, als blickten wir einer Autorin beim Schreiben über die Schulter. Anders als die Frauen wirken die Männerfiguren eher wie Prototypen: von zart bis hart, bis zum toxischen Mafioso - glaubhaft gespielt von André Szymanski.

"Ich werde dir alles nehmen, was du hast."
"Den letzten Satz spuckt er aus, als ob sich ihm der Magen umdreht. Und als Reaktion auf diesen körperlichen Schmerz schlägt er Lila mit der Faust mitten ins Gesicht und wirft sie zu Boden." Bühnenzitat

Ein Theaterabend über weibliche Kraft

Elena Ferrante, die Autorin der "Neapolitanischen Saga", ist bis heute unsichtbar. Auch hier, in diesem bewegenden Theaterabend, geht es ums Verschwinden, ums Untertauchen. Das Kind Lilas - hat es die Mafia entführt? Hier verbindet die Regisseurin die Wirklichkeit geschickt mit der Fiktion.

Die Bühnenästhetik schwankt zwischen Styropor-Vesuv im Hintergrund und Sandro Botticelli-Kopie. Das ist etwas zu süffig, genauso wie die Tänze auf der Bühne. Trotzdem: Der Regie und dem Ensemble gelingt ein körperlicher Abend, ein Abend über weibliche Kraft. Ein echter Glücksfall.

Weitere Informationen
Vier Personen in dunklen Umhängen im Regen auf der Bühne im Stück "Noch wach?" im Thalia Theater © Krafft Angerer / Thalia Theater Foto: Krafft Angerer

"Noch wach?" am Thalia Theater: Zu viel Ehrfurcht, zu wenig Mut

In Anwesenheit von Autor Benjamin von Stuckrad-Barre feierte das Stück am Freitag seine Premiere mit einem großartigen Ensemble. mehr

"Meine geniale Freundin" am Thalia Theater geht unter die Haut

Premiere der Bühnenfassung des vierten Bands der "Neapolitanischen Saga" von Elena Ferrante in Hamburg.

Art:
Bühne
Datum:
Ende:
Ort:
Thalia Theater
Alstertor
20095 Hamburg
Preis:
ab 9 Euro
Hinweis:
Mit:
Rosa Thormeyer (Elena Greco)
Anna Blomeier (Lila Cerullo)
Sebastian Zimmler (Nino Sarratore)
Sandra Flubacher (Immacolata Greco)
Christiane von Poelnitz (Adele Airota)
Jirka Zett (Pietro Airota)
André Szymanski (Michele Solara)
Meryem Öz (Carmen Peluso)
Julian Greis (Enzo Scanno)Alina Sophie Müller / Clara Marie Pinter (Dede)
Filippa Valet / Theresa Zölch (Elsa)
In meinen Kalender eintragen

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 29.09.2023 | 07:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Theater

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Sänger Maxim von der Band The Prodigy während eines Auftritts in Kopenhagen 2023. © picture alliance / Gonzales Photo/Nikolaj Bransholm Foto: Gonzales Photo/Nikolaj Bransholm

Hurricane Festival: The Prodigy, Apache 207 und Sam Fender 2025 dabei

Die englische Elektro-Punk-Band The Prodigy und ein Who-is-Who der deutschen Pop- und HipHop-Szene haben sich für kommendes Jahr angekündigt. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?