Theatermacher René Pollesch: Was machte ihn herausragend?
"Ja nichts ist ok" steht heute fett in den Überschriften vieler Kulturseiten im Netz. Das ist der Titel der letzten Theaterinszenierung von René Pollesch. Vor gut zwei Wochen war die Premiere. Gestern ist er im Alter von 61 Jahren gestorben - plötzlich und unerwartet.
Viele Theaterfans sind über diese Nachricht erschüttert - auch NDR Kultur Kollege Stefan Forth, der Polleschs Arbeit seit Jahrzehnten verfolgt hat.
Was hat diesen Theatermacher so besonders gemacht?
Stefan Forth: René Pollesch war eine einzigartige Ausnahmeerscheinung des deutschsprachigen Theaters. Das fängt schon damit an, dass er als Regisseur praktisch nie Textvorlagen von anderen Leuten inszeniert hat, schon gar keine Dramen - also keinen Schiller, Shakespeare oder Ibsen. Pollesch hat Pollesch inszeniert: Texte, die er oft mit seinem Ensemble zusammen entwickelt hat. Das waren Texte, in denen es in der Regel keine Handlung gibt und auch keine Figuren im eigentlichen Sinne, also auch keine Geschichte, die man hinterher hätte erzählen und zusammenfassen können.
Stattdessen haben Menschen auf der Bühne um die existentiellen Themen des Lebens gerungen und gestritten: Über die erhitzte Debattenkultur unserer Tage zum Beispiel in "J'accuse", 2021 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, über Arbeitsbedingungen von Telearbeiterinnen und Paketboten, über Künstliche Intelligenz und durchkommerzialisierte Stadträume, über die dauernde Überforderung von uns Menschen in der Welt und vor allem und immer wieder über Liebe.
Das klingt erstmal sperrig und kompliziert. Wie hat Pollesch es geschafft, mit solchen Diskursen große Bühnen in Hamburg, Wien und Berlin zu füllen?
Forth: Er hat sich mit seinen Spielerinnen und Spielern immer mit großem Spaß, richtig lustvoll und mit ganzer Kraft in die Inszenierungen gestürzt - oft mit grandiosen Bühnenbildnern, die lange Zeit der legendäre Ausstatter Bert Neumann für ihn entworfen hat. Da gab es Zirkuswagen und Raketen, Chöre, Chaos und Kanonen, Videoleinwände und vieles mehr.
Bei Pollesch war und ist immer etwas los auf der Bühne. Er und seine Darstellerinnen und Darsteller haben die Überforderung im Theater gelebt. Da wurde gerannt, geschrien und auch mal "scheiße" gebrüllt, wenn sich mal wieder jemand in den Textschleifen verheddert hatte. Das konnte manchmal nach ziemlich viel Anarchie aussehen, aber Pollesch hatte den Laden immer im Griff, hat sich beim Boulevardtheater und bei Komödien bedient und immer mal wieder aus Filmen zitiert - aus "Fantomas" zum Beispiel, der französich-italienischen Krimireihe aus den 1960er-Jahren. Er hat sich auch bei brandaktuellen soziologischen oder philosophischen Texten bedient, weil Pollesch mit seinen Themen immer ganz nah am Puls der Zeit war - Themen, an denen wir alle manchmal verzweifeln. Mit Pollesch konnten viele über diese Verzweiflung lauthals lachen. Der Mann hat Volkstheater für denkende Menschen gemacht.
Damit hatte er großen Erfolg. Er hat einige Dramatikerpreise gewonnen und war an allen großen deutschsprachigen Theatern gern gesehener Gast. Wie erklärst du dir, dass praktisch alle mit ihm zusammenarbeiten wollten?
Forth: Er war als Theatermensch ein unfassbares Kraftzentrum und ein echter Teamplayer, mit dem Schauspielerinnen und Schauspieler gerne zusammengearbeitet haben, weil er sie so ernst und wichtig genommen hat, wie sonst wohl nur wenige Regisseurinnen und Regisseure. René Pollesch hat sich wirklich und ernsthaft für Menschen in seiner Umgebung interessiert, hat ihnen zugehört und war bei all der Theateranarchie ein bodenständiger Typ. Sein Standard-Outfit bei Premieren waren die legendäre abgewetzte Lederjacke und dazu Jeans. Theater waren für ihn lebendige, offene Orte; Räume, in denen sich Menschen begegnen, Spaß haben, auch mal gerne zusammen feiern und zusammen über das Leben nachdenken und philosophieren. All das hat er mit einer bewundernswerten kreativen Energie betrieben und ist immer wieder an seine Grenzen gegangen.
Das Theater war sein Leben und seine Familie: Sophie Rois, Martin Wuttke, Fabian Hinrichs - die Liste der großen Namen von Spielerinnen und Spielern, die immer wieder und sehr eng mit ihm zusammengearbeitet haben, ist lang. Zusammen mit Pollesch haben sie Einzigartiges geschaffen: ein Theater, das es so sonst nicht gab und das es in dieser Form wohl auch nie wieder geben wird. Ohne René Pollesch wäre das deutschsprachige Theater heute ein anderes. Er hat viele inspiriert und wichtige Impulse gesetzt für einen neuen, weniger kunstvollen oder künstlichen Ton auf den Bühnen, für mehr Lebendigkeit und weniger Dünkel. Mit René Pollesch ist einer der wichtigsten deutschen Theatermacher unserer Zeit gestorben. Sein Tod reißt eine riesengroße Lücke.
Das Gespräch führte Julia Westlake.