Das Hamburger Thalia Theater von außen. © Thalia Theater

Wiedereröffnung des Thalia Theaters vor 75 Jahren

Stand: 30.09.2021 18:01 Uhr

Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Thalia Theater durch eine Minenbombe schwer beschädigt. Vor 75 Jahren wurde es wieder eröffnet. Das erste Stück: Shakespeares "Was ihr wollt".

Das Hamburger Thalia Theater von außen. © Thalia Theater
Beitrag anhören 15 Min

von Heide Soltau

Es war ein Akt der Selbstbehauptung und der Zuversicht, als das Thalia Theater am Hamburger Alstertor anderthalb Jahre nach Kriegsende seinen Spielbetrieb wieder aufnahm. Obwohl das Gebäude im April 1945 schwer beschädigt worden war. Eine Minenbombe hatte den hinteren Teil, das sogenannte Bühnenhaus, komplett zerstört und das Dach des Zuschauerraums beschädigt. Bis das Gebäude wieder einigermaßen hergerichtet war, fanden die Vorstellungen in einer Schulaula und dem Gemeindehaus einer Kirche statt. Zum Intendanten wählte das Ensemble den politisch unbelasteten Schauspielerkollegen Willy Maertens. Er gehörte seit 1927 fest zum Haus und hatte während der Nazi-Zeit zu seiner jüdischen Frau, der Schauspielerin Charlotte Kramm, gehalten und sich nicht von ihr scheiden lassen. Sie war 1932 ans Thalia-Theater gekommen. Ab 1935 durfte sie es nicht mehr betreten und hatte bis 1945 Aufführungsverbot.

Durch einen Trick überlebte Charlotte Kramm

Einzig durch einen Trick überlebte Charlotte Kramm die Judenverfolgung, wie ihr Sohn, der 2020 verstorbene Schauspieler Peter Maertens, einmal erzählt hat. Seine Mutter habe sich als die nichteheliche Tochter eines preußischen Offiziers ausgegeben, der ihr bei seinem Tod nur ein Foto hinterlassen habe. Eine windige Geschichte, aber man glaubte sie ihr. Vielleicht auch, weil sie als Schauspielerin so überzeugend lügen konnte und Fürsprecher hatte, die sich für sie eingesetzt haben.

Weitere Informationen
Kinder spielen 1946 in den Trümmern von Hamburg. © picture-alliance / dpa

Zwischen Flak-Splittern und nahbaren Briten

Peter Maertens erlebt den Zweiten Weltkrieg als Junge in Hamburg. Seine jüdische Mutter überlebt den NS-Terror nur durch eine List. mehr

Neueröffnung mit Shakespeares "Was ihr wollt"

Als das Thalia Theater zur ersten Vorstellung einlud, war das Haus merklich kleiner als früher. Man hatte die Bühne in den Zuschauerraum verlegt und die defekte Decke mit Fallschirmseide abgehängt. Statt über 1.350 Plätze verfügte der Saal nur noch über die Hälfte. Auf dem Programm stand William Shakespeares berühmte Komödie "Was ihr wollt". Ein Verwirrspiel um vorgetäuschte Identitäten, unglückliche Liebe und das Sehnsuchtsreich Illyrien. Als sich am Ende doch noch die Paare finden, singt der Hofnarr, der wie immer leer ausgeht:

Und als ich ein winzig Bübchen war,
Hop heisa, bei Regen und Wind!
Da machten zwei nur eben ein Paar;
Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag. Zitat aus "Was ihr wollt"

"Was ihr wollt" von William Shakespeare, 1946, Regie Heinz Klevenow, mit Emil Lohkamp (Orsino), Erni Wilhelmi (Viola), Willy Maertens (der "melancholische" Narr). Eröffnungspremiere der Spielzeit 1946/47. © Thalia Theater
Bei der Aufführung von Shakespeares "Was ihr wollt" (1946) führte Heinz Klevenow Regie. Emil Lohkamp stand als Orsino, Erni Wilhelmi als Viola und Willy Maertens als Melancholischer Narr auf der Bühne (v.l.n.r.).

Intendant Willy Maertens spielte die Rolle 1946 selbst. Knapp 20 Jahre zuvor war er als jugendlicher Komiker und Lebemann ans Thalia Theater gekommen und hatte sich schnell in die Herzen der Hamburger gespielt. Er war abonniert auf die leichtere Muse und so gestaltete er auch das Programm. Auf dem Spielplan standen viele Komödien. Das hatte Tradition am Alstertor. Mitte des 19. Jahrhunderts war es von Chérie Maurice, dem Sohn eines französischen Schnaps- und Likörfabrikanten, der eigentlich Charles Schwartzenberger hieß, gegründet worden. Mit Komödien wurde es zum Lustspielhaus Hamburgs.

Thalia Theater auf Erfolgskurs

Das Etikett Unterhaltung hing dem Haus seit seiner Gründung an. Zur Freude der einen, zum Leidwesen der anderen. Nachdem die Aufbruchsstimmung der ersten Nachkriegsjahre verflogen war, sah sich auch Willy Maertens dem Vorwurf ausgesetzt, er fröne dem Leichten und Seichten und spiele vor allem Boulevard. Er selbst hat sich immer dagegen verwahrt. "Thalia ist die Göttin der leichten Muse, warum sollte man sie diskreditieren? Wir haben Tennessee Williams gespielt, Gerhard Hauptmann, Arthur Miller und dazwischen auch Lustspiele."

Er setzte auf die Mischung und auf den Kontrast zum benachbarten Deutschen Schauspielhaus, wo seit 1955 Gustaf Gründgens als Intendant die Strippen zog. Und der pflegte den hohen Ton und die hohe Klassik, umjubelt von den anspruchsvollen Feuilletons und den feinen Hanseatinnen und Hanseaten. Um moderne, zeitgenössische Stücke machte Gründgens einen Bogen, die kamen am Thalia Theater heraus.

Willy Maertens pflegte sein Stammpublikum und baute das Abonnement-System aus. 1957 zählte es 17.000 Mitglieder und musste eingefroren werden, weil die Kapazitäten erschöpft waren. Darauf konnte er zur Recht stolz sei. Er liebte es, wenn man ihn auf der Straße wie einen Bekannten ansprach. Wenn er mit seinem Chauffeur unterwegs war, soll er oft gesagt haben: "August, jetzt fahr bitte vorsichtig, jeder könnte ein Abonnent sein".

Ende der Intendanz von Willy Maertens

Zwei Männer stehen in einem Lebensmittelladen. © picture alliance / United Archives/Pilz | Siegfried Pilz
Willy Maertens (rechts) als Einkaufsladenverkäufer Vogel in dem Fernsehfilm "Koll" (1964).

Von einer Übergangsphase war die Rede, als Willy Maertens 1946 seine Intendanz antrat. Dass der beliebte Schauspieler daran über viele Jahre festhalten würde, hätte niemand gedacht. Aber der Zuspruch des Publikums bestätigte ihn. Unter seiner Leitung konnte das Thalia Theater am 3. Dezember 1960 nach 14 Jahren des Provisoriums endlich die Fertigstellung des Wiederaufbaus und Umbaus feiern. Der Architekt Werner Kallmorgen gab dem Haus das Gesicht, das es bis heute prägt. Mit holzvertäfelten Wänden und geschwungenen Rängen, die dem Saal eine Leichtigkeit verleihen, die sich wohltuend von dem samtenen Plüsch anderer Theater unterscheiden. Zur Eröffnung wurde diesmal "Die heilige Johanna" von George Bernard Shaw.

1964 gab Maertens die Leitung des Theaters ab, nachdem der Druck von CDU und SPD in der Bürgerschaft zugenommen hatte. Auf ihn folgte eine glücklose Zeit, die erst durch die Intendanz von Boy Gobert 1969 ein Ende fand. Er holte Regisseure wie Peter Zadek, Hans Neuenfels, Luc Bondy, Andrea Breth und Jürgen Flimm ans Haus. Als Flimm 1985 die Leitung des Hauses übernahm, stieg das Thalia-Theater endgültig in die erste Liga der deutschsprachigen Bühnen auf, zu der es seither gehört.

Weitere Informationen
Hans Albers im Film "Der Greifer" (1930) © picture alliance / kpa | 90061

Hans Albers: Die singende Schauspiel-Legende aus Hamburg

Er verströmte Optimismus wie auch Melancholie. Albers war einer der populärsten Schauspieler und Sänger des 20. Jahrhunderts. mehr

Blick vom Kirchturm auf die zerstörte Innenstadt in Richtung Hafen nach den Luftangriffen auf Hamburg 1943 © Uwe Petersen Foto: Andreas Werner

"Operation Gomorrha": Feuersturm vernichtet Hamburg im Juli 1943

Die Luftangriffe der Alliierten auf Hamburg erreichen in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943 ihren Höhepunkt. Zehntausende sterben. mehr

Szene aus dem Theaterstück "Meister Anecker" mit Henry Vahl (r.) und Karl Heinz Kreienbaum. © Ohnsorg Theater

Ohnsorg-Theater: Eine Bühne mit langer Geschichte

Seit 1902 begeistert das Hamburger Ohnsorg-Theater Zuschauer nicht nur im Norden. Die Bühne schafft es 1954 erstmals ins Fernsehen. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Kulturjournal | 29.09.2021 | 19:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Theater

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Gemälde von Caspar David Friedrich "Der Morgen" © picture-alliance / akg-images | akg-images

"Waldendzeit": Caspar David Friedrich und die Bäume

Buchautor Wilhelm Bode ist Waldexperte und hat sich aus dieser Sicht mit den Gemälden von Caspar David Friedrich beschäftigt. mehr