Langsames Theater: "Der Sonnenwagen" in Hannover
Das hannoversche Performance-Kollektiv Frl. Wunder AG ist mitten im Rechercheprozess für seine neue Arbeit mit dem Arbeitstitel "Der Sonnenwagen". Ein Stück über Zeitverschwendung und Zeitwohlstand.
Svenja Wolff und Verena Lobert haben einen Sack voller Zwei-Cent-Stücke und legen eine Münze nach der anderen in wurzelförmigen Bahnen aus. Wenn das letzte Geldstück abgelegt ist, wird vom Anfang der Bahn eines weggenommen und vorne wieder angelegt. Auf diese Weise haben sich die beiden bereits durch die Innenstadt Hannovers bewegt.
Langsames "Fortwurzeln" in geschäftiger Innenstadt
Dieses Sinnbild für Langsamkeit stieß bei den Vorbeieilenden auf unterschiedliche Reaktionen, sagt Svenja Wolff. "Viele Leute sind eigentlich auch gleich in so einen Assoziationsraum eingestiegen und haben gesagt, das sieht aus wie Wurzeln, das sieht aus wie Flüsse in der Landschaft." Und so nennt Sie die Art wie sie sich in der Stadt fortbewegt haben auch: "fortwurzeln". In Gesprächen mit Passanten seien sie immer wieder auf ähnliche Themen gekommen. "Welchen Wert hat Geld, welchen Wert hat Zeit, welchen Wert hat welche Zeit, die man womit verbringt?"
Verlernen von Arbeitsweisen
Nachdenken über Zeit, ein Thema, mit dem die Frl. Wunder AG ihrem Manifest zum "Langsamen Theater" Leben einhaucht. Mit ihm haben sich die Macher:innen jüngst vorgenommen, ein neues Tempo des Produzierens zu etablieren. Vor fast 20 Jahren hat sich das Theaterkollektiv in Hildesheim gegründet. Viele Jahre hätten sie unter großem Produktionsdruck und Zeitmangel gearbeitet, sagt Svenja Wolff. Dazu kommt jetzt die Debatte über einen schonenderen Umgang mit den Ressourcen, auch im Theater. "Wenn man sich die Nachhaltigkeitsdebatte im Moment anguckt, finde ich es sehr logisch, diesem ständigen Innovationsdruck etwas entgegenzusetzen." Sie wolle langsamer werden und sich länger mit Themen beschäftigen. "Ich habe das Gefühl, das ist wirklich ein langsamer Prozess des Verlernens von bestimmten Arbeitsweisen."
Langsamkeit aus ästhetischer Sicht
Dabei sind Langsamkeit und Müßiggang wichtig für die Kreativität - und damit auch für die Weiterentwicklung einer Gesellschaft. Doch es geht den Theatermacherinnen nicht um die Entspannung zwischen zwei stressigen Arbeitseinsätzen. Vielmehr untersuchen sie Langsamkeit unabhängig von ihrer Funktion aus unterschiedlichen ästhetischen Blickwinkeln. Mit der Tänzerin Lea Martini haben sie gerade einen Sprint auf einem Sportfeld in Zeitlupe geprobt, erzählt Verena Lobert. Die extrem langsame sportliche Betätigung sei für sie wie eine Choreografie.
Zeit produktiv nutzen
"Sonnenwagen" lautet der Arbeitstitel des auf zwei Jahre angelegten Theaterprojektes, in der Mythologie steht er für den Lauf der Zeit. Mit "Zeit" verbinden Menschen aus einer auf Produktion fokussierten Gesellschaft wie der deutschen immer auch etwas Nützliches. Darauf jedenfalls lassen manche Reaktionen der Passanten schließen, die sich wunderten, was das soll, Geldmünzen auf einem Fußgängerüberweg zu ornamentalen Figuren zu legen. Die Antwort gibt es nächstes Jahr.