"Wir, die Familie Caserta": Eine unverstandene Außenseiterin
Trotz der eigenwilligen Sprache von Aurora Venturini folgt man gebannt dem Leben ihrer geistig brillanten Protagonistin. "Wir, die Familie Caserta" ist ein origineller und dicht erzählter Roman.
Erst mit 85 wurde die argentinische Schriftstellerin Aurora Venturini durch einen literarischen Nachwuchspreis entdeckt - dabei hatte sie schon ihr ganzes Leben über geschrieben, nur eben unter dem Radar der meisten Menschen. Aber mit dem Roman "Die Cousinen" wurde sie plötzlich zur Ikone in Argentinien und international bekannt. Und in Deutschland auch deshalb, weil Johanna Schwering für ihre Übersetzung den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Nun ist ein zweiter Roman der 2015 verstorbenen Autorin auf Deutsch erschienen. Die erste Manuskript-Fassung von "Wir, die Familie Caserta" lag schon Ende der 1960er-Jahre vor.
Der unverstandene Wüterich
Was gäbe ich nicht darum, die Witwe von Luis zu sein, ich, die ich im Leben nichts von niemandem war. Leseprobe
Die Argentinierin Chela erinnert sich an ihre einzige, letztlich unerfüllte Liebe zu einem Mann. Auf dem Dachboden ihres Elternhauses auf dem Land unweit von Buenos Aires hat Chela eine Truhe mit Fotos und Dokumenten aus ihrem Leben geöffnet und lässt es verbittert Revue passieren. Sie beschreibt sich als "zerrissen, gebrochen und verstümmelt". So beginnt Aurora Venturinis origineller und dicht erzählter Roman "Wir, die Familie Caserta". Chela wird 1921 am selben Tag wie die Autorin geboren und wächst in einer großbürgerlichen Familie auf. Ihre Mutter behandelt die hochbegabte Chela, der es schwerfällt, soziale Kontakte zu knüpfen, wie eine Aussätzige. Der Vater nennt sie eine "Bestie". Und sie gibt ihm recht, isst ohne Besteck und schafft sich auf dem Dachboden, "über dem Haus der Menschen", wie es im Roman heißt, eine eigene Welt unter den ihr vermeintlich gleichen Tieren, lebt dort mit Eule, Eidechse und Katzen:
Oft aßen sie mein Essen und ich pickte ihre Krümel; sie waren immer hungrig und ich nur manchmal. Und auch wenn mancher das bezweifeln mag, wir pflegten fabelhafte Soireen mit wunderbaren Gesprächen zu halten. Leseprobe
Später kümmert sie sich auf dem Dachboden liebevoll um ihren behinderten Bruder, mit dem sie die Andersartigkeit teilt. Trotz der eigenwilligen und anspielungsreichen Sprache der Autorin folgt man schon sehr bald gebannt dem Leben Chelas, von Argentinien nach Europa und zurück, und gewinnt diesen geistig brillanten, unverstandenen Wüterich lieb. Bis Chela verstörend unmenschliche Dinge tut. Oder sind das nur nicht in die Tat umgesetzte Gewaltfantasien einer Erzählerin, die unter Einfluss von Medikamenten oder Drogen steht?
Hatte auch Aurora Venturini eine schwierige Kindheit?
Zuvor lebt Chela im Studium von Philosophie und Psychologie auf, beim Lesen von Gedichten und wird selbst Schriftstellerin. Ganz so wie Aurora Venturini. Auch sie hatte als Kind eine Eule als Haustier. Allerdings hat die Autorin in Interviews einige erfundene Geschichten über ihr eigenes Leben verbreitet. An der von ihr oft erwähnten schwierigen Kindheit dürfte aber wohl etwas real gewesen sein, vermutet Johanna Schwering, die den Roman einfühlsam und einfallsreich übersetzt hat: "Es ist unklar, ob sie selbst einen behinderten jüngeren Bruder hatte. Das hat sie so zu Protokoll gegeben, mehrfach. Aber ihre jüngere Schwester hat das dementiert. Die hat gesagt: 'Den gab es gar nicht.' Es ist offensichtlich, dass es da auch ein Mutter-Thema gibt, weil sich das in ihren Texten so stark wiederholt: diese große Sehnsucht nach der abwesenden und grausamen Mutter. Das ist etwas, was mich als Leserin sehr berührt hat."
"Wir, die Familie Caserta": Ein faszinierender Roman
Die Ich-Erzählerin beschreibt sich selbst als "autistische" Person, die andere vor den Kopf stößt, indem sie ungefiltert die Wahrheit sagt. Heute würde man wohl das Asperger-Syndrom diagnostizieren. Das stieß während Chelas Kindheit, in den 1920er- und 1930er-Jahren, aber selbst bei Fachleuten noch auf Unverständnis. So nennt im Roman eine Psychologin Chela gar ein "Monster". Als erwachsene Frau fühlt sich Chela zu ihrer italienischen Großtante hingezogen, weil auch sie anders ist und beide die unglückliche Liebe zu einem Mann verbindet. Und so lieben sich die zwei Frauen stellvertretend leidenschaftlich:
Sie nannte mich Francesco, ich nannte sie Luis. (…) Der kleine Drache gab mir die Liebe, die alle mir verwehrten. Leseprobe
"Wir, die Familie Caserta" ist ein faszinierender Roman über eine unverstandene Außenseiterin, die sich nach Liebe sehnt und wütend ihren Platz in der Welt sucht.
Wir, die Familie Caserta
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem argentinischen Spanisch von Johanna Schwering
- Verlag:
- dtv
- Bestellnummer:
- 978-3-423-28360-1
- Preis:
- 24 €