Cover Monika Helfer, "Wie die Welt unterging“ © Hanser

"Wie die Welt weiterging": Monika Helfers Geschichten machen süchtig

Stand: 14.11.2024 06:00 Uhr

Bei Monika Helfers neuem Buch handelt es sich um eine Sammlung von 365 Kurzgeschichten - eine Schatzkiste mit "Geschichten für jeden Tag". Darin schaut die Autorin dem Menschen "bis auf den Grund".

von Alexander Solloch

Jeden Tag betrete ich den Wald, als wäre er mein Zimmer. Ich kenne die Steine, Sträucher und Bäume. Betritt ein anderer Mensch mein Zimmer, verstecke ich mich im Gebüsch und warte, bis er vorübergegangen ist. Leseprobe

Ja, wahrscheinlich wäre es wirklich am besten, sich all die bedeutungsvollen Worte zu sparen, die einem zum Werk von Monika Helfer in den Sinn kommen könnten, und stattdessen das Naheliegende zu tun: hineinzugreifen in ihre von Geschichten überlaufende Schatzkiste und einfach nur vorzulesen. Mehr muss der Rezensent eigentlich gar nicht tun, um seiner Schwärmerei von ihr überzeugenden Ausdruck zu verleihen.

Der Weg durch den Wald führt hinauf auf einen Hügel zu einer Ritterburg, 740 Meter über dem Meer. Unsere Tochter Paula ist vor Jahren mit ihrer Freundin diesen Weg gegangen, ist auf den Felsen geklettert und abgestürzt. Ein Stein trat aus dem Berg. Der Stein hat sie erschlagen. Ich bekreuzige mich und bleibe vor dem Bild stehen, das mein Mann an den Baumstamm genagelt hat. Darauf ist das liebe Gesicht unserer Tochter Paula zu sehen, gerade zwanzig ist sie. Sie hat diesen innigen Blick, der sagt, ich schau in dich hinein, Mama, schau dir bis auf den Grund. Leseprobe

 

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Monika Helfer findet Trost in den Worten

Dem Menschen "bis auf den Grund" schauen: Das ist es, was Monika Helfer tut. Die hier versammelten Geschichten, die sie in den vergangenen Jahren zum größten Teil für ihre kleine Heimatzeitung, die "Vorarlberger Nachrichten", geschrieben hat, zeigen eine unverwüstliche Freundin der Menschen und der sie umgebenden Natur. Kein Kummer ist ihr fremd und keine Verzweiflung. Aber der Trost liegt in den Worten und darin, dass es ein Gegenüber gibt, dem man sich anvertrauen kann.

Eine Bank steht vor dem Bild. Darauf sitzt zur Mittagszeit eine sehr alte Frau. Sie winkt mich zu sich, und ich sage ihr, dass ich einmal so werden will wie sie, so abgeklärt, gütig auch zu den Bösen. Einmal überraschte sie ein Einbrecher. Die alte Frau sagte zu ihm: "Ich brühe Kaffee für Sie auf, dann gehen Sie wieder, armer Mann. Ich habe nur wenige Euros in meiner Geldbörse. Wollen Sie die haben?" Der Mann schämte sich und kletterte wieder durch das Küchenfenster hinaus ins hohe Gras. Am nächsten Tag kam er vorbei, diesmal stand er vor der Haustür und brachte der alten Frau ein Stück Marillenkuchen. Leseprobe

"Mein Wald" heißt diese Geschichte, sie ist erkennbar autobiografisch grundiert. Paula, die verstorbene Tochter Monika Helfers und ihres Mannes Michael Köhlmeier, scheint in jedem ihrer Bücher ganz kurz auf. Wie der Schmerz überhaupt auszuhalten ist, können wir nicht wissen; aber ohne das Erzählen wäre er wohl noch schärfer. Solange man erzählen kann, geht die Welt weiter. "Wenn Sie mir nur zuhören, bin ich schon halb gerettet", sagt in einer anderen Geschichte der Arzt, der unter Versagensangst leidet, einer Patientin.

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Süchtig machende Geschichten

Ein Amselweibchen verirrt sich im Gestrüpp des "Urwalds", den die Erzählerin im Wohnzimmer, in der Ecke vor der Verandatür, angelegt hat: "Sie kann doch nicht so dumm sein und die Freiheit nicht finden", seufzt sie; aber schwierig ist es eben doch. Monika Helfer erzählt mit Worten, Sätzen und Geschichten, die süchtig machen, von diesem geradezu durchscheinend dünnen Band, das uns vom ganz anderen trennt, die Freiheit von der Gefangenschaft, die Wirklichkeit von der Magie, das Leben vom Tod.

Wie die Welt weiterging. Geschichten für jeden Tag

von Monika  Helfer
Seitenzahl:
768 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Hanser
Bestellnummer:
978-3-446-27750-2
Preis:
32 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 14.11.2024 | 12:40 Uhr

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Romane

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