"Löwenherz": Monika Helfer erzählt die Geschichte ihres Bruders

Stand: 31.01.2022 13:48 Uhr

Nach den Erfolgen von "Die Bagage" und "Vati" hat Monika Helfer einen weiteren Roman über ihre Familie geschrieben. In ihrem neuen Buch "Löwenherz" erzählt die Autorin die Geschichte ihres Bruders Richard.

von Alexander Solloch

"On The Road Again" von Canned Heat ist das Lied, das Richard immer hört, wenn er Auto fährt. Den dazu erforderlichen Führerschein macht er vielleicht irgendwann oder nie, mal schauen. Er ist kein Rebell, aber von Behörden oder sonstigen Autoritäten erwartet er keine Anleitung fürs richtige Leben. Sowieso erwartet er eigentlich nichts. Er schlendert vor sich hin, und dann wird schon irgendwas passieren.

Ein Hund lief ihm nach, einer, der verschiedenste Vorfahren vorzuweisen hatte, ein struppiger, knapp übers Knie hoher, eine Sympathie war gleich zwischen ihnen. Vor dem Haus, in dessen zweitem Stock er wohnte, bückte sich Richard zu dem Hund nieder und sagte und sprach zu dem Tier im Ton erst wie ein Lehrer zu einem Schüler, dann wie ein Priester zu einem Ministranten, zuletzt wie ein Komiker zu einem Kompagnon auf der Bühne: "Bleib bei mir, geh nicht fort! Ich nenne dich, wie nenne ich dich, wie nenne ich dich, ich nenne dich: Schamasch. Du bist mein Sonnengott. Sei Gast in meiner Hütte, und wenn es geht, scheiß mir nicht in eine Ecke." Die Zukunft würde geschehen. So oder so. Für Mensch wie für Tier. Ein Hölzchen in den Weg legen könnte man ihr immerhin.

Monika Helfers Bruder: Richard, der Lebenskünstler

Ein junger Weiser also, möchte man meinen, Richard, der um sechs Jahre jüngere Bruder der Erzählerin, ein Lebenskünstler, der dem Abenteuer eines jeden Tages die Arme weit ausbreitet. Der in eine Badewanne steigt, die zufällig am Ufer des Bodensees steht, - vielleicht als Tränke für Pferde-, sie ins Wasser schiebt und in ihr über den See schippert, vielleicht ja bis zum Rheinfall bei Schaffhausen, das wäre doch mal spannend.

Mein Mann, ich meine meinen zweiten Mann, den Michael, mit dem ich immer noch verheiratet bin, der hat Richard gut gekannt. Bald nachdem wir uns kennengelernt und ineinander verliebt hatten, befreundeten sich die beiden, ich glaube, Michael kannte ihn besser, als ich ihn kannte. Nach Richards Tod sagte er zu mir: "Ich weiß niemanden, dem das Leben so wenig wichtig war wie dem Richard." Warum er das gerade jetzt sage, fragte ich, zornig, weil ich so etwas nicht hören wollte. Die Antwort: "Ihm wäre interessanter gewesen, in einer Badewanne über den Rheinfall zu stürzen, als wichtiger, dabei zu überleben."

Eine Frau bringt Glück und Unglück in Richards Leben

Richards Tod: Dies ist eben doch keine frühlingduftende Geschichte von einem, der die Schwere des Lebens leichter zu nehmen weiß als wir alle anderen, oder wenn, dann allenfalls an der Bodensee-Oberfläche. Das Badewannen-Abenteuer übersteht er noch glimpflich. Aber die Frau, die ihn aus dem Wasser rettet, wird sein Unglück sein, obwohl sie auch, wie Unglücksbringer es oft tun, so viel Glück in sein Leben schleudert. Sie schiebt ihm ihr Kind zu und verduftet. Richard, der einst Liebling seines Vaters gewesen war, von diesem "Löwenherz" genannt wurde, mehr Zuwendung aber nicht bekommen konnte, weil "Vati", wie wir im Vorgängerroman lesen können, im Kummer ganz aus der Welt verschwand - Richard also ist plötzlich selbst Vater.

Er war ein Wilder, ein Wilder ohne menschliches Gesetz war er. Er liebt das Kind, das Kind liebt ihn, die Mutter liebt es nicht, sonst würde sie sich kümmern, also bekommt er das Kind. Gesetz der Natur. Aus. So dachte er - ein Mann, der wegen Marihuanabesitzes vorbestraft war. Der nicht einmal wusste, wie das Kind mit seinem richtigen Namen hieß. Der Aufpasser eines Kindes, das selbst nicht wusste, wie es hieß. Er war der beste Vater aber.

Die Unwirklichkeit eines schön-traurigen Lebens

Das jedenfalls ist die Wahrheit eines Moments, der Unwirklichkeit dieses schön-traurigen Lebens von Richard abgetrotzt. Vielleicht war alles auch ganz anders? Monika Helfer ringt mit all den Lücken, all den Fragen, ringt mit ihrer Erinnerung, mit der Erinnerung ihres Mannes, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier.

Ihm verspricht sie: "Wenn ich fertig bin, kümmere ich mich wieder mehr um uns."
"Kein Problem", sagt er.
"Dann mach ich jetzt weiter."
"Ja."

Ja. Weitermachen muss Monika Helfer, diese an Erzählwundern so übervolle Sprachkünstlerin. Weitermachen - und bitte niemals fertig sein, immer "on the road" bleiben, auf der Straße des Erzählens…

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