Wie Schmetterlinge im November: Roman "Store Kongensgade 23"
Søren Ulrik Thomsen, einer der wichtigsten Schriftsteller Dänemarks, erzählt in seinem außergewöhnlichen Text "Store Kongensgade 23" von der seelischen Erkrankung seiner Mutter und ihrer überraschenden Heilung.
Die bevorzugte Jahreszeit in diesem Text von Søren Ulrik Thomsen ist der graue, schummrige November. Seine Sätze schwingen weit aus und erzählen von der Stadt Kopenhagen, von Depression, vom Alter, vom Tod, den Eltern, den großen Lieben eines Lebens.
Mein erster Gedanke nach der telefonischen Nachricht vom Tod eines alten Freundes heute Morgen war, Pia Juul anzurufen, um mit ihr zusammen zu trauern und gemeinsam unseres Freundes zu gedenken, doch in der nächsten Sekunde fiel mir ein, dass Pia ja auch nicht mehr da ist. Und obschon ich jeden Tag fürchte, auf dem S-Bahn-Sitz zusammenzusacken, graut mir auch davor, so lange zu leben, dass ich am Ende allein im Haus Sonne hocke und in ein Adressbuch voll durchgestrichener Namen all meiner Lieben starre, während die widerwärtigsten Arschlöcher quicklebendig herumspazieren und Gottes unerforschlichen Ratschlüssen frech ins Gesicht lachen. Leseprobe
Søren Ulrik Thomsens Erinnerungsbuch
Der schmale Band hat den Titel "Store Kongensgade 23", das ist eine Adresse in Kopenhagen, wo Thomsen als 16-Jähriger für ein Jahr gelebt hat. Er erzählt, dass es zwar nur ein Jahr seines Lebens war, aber dieser Ort bildet in rätselhafter Weise das Zentrum für sein gesamtes Leben. In seinem Erinnerungsbuch geht es dann ausführlich um jene düstere Epoche, die hier begann. Die Zeit, als seine Mutter an einer Depression erkrankte, unter der sie jahrelang litt. Sie bekam alle erdenklichen Psychopharmaka und wurde mit insgesamt 35 Elektroschocks behandelt. Der Bericht ihres Sohnes ist streckenweise starke Kritik an einer medikamentenbasierten, klinischen Psychiatrie. Die Mutter kam dann zu einem Psychiater, der ihr zuhörte und mit ihr sprach. Sie wurde geheilt und hat noch 42 Jahre gelebt, ohne je wieder depressiv zu werden. Sie hat nie über ihre Krankheit oder das Rätsel ihrer Heilung gesprochen. Thomsens Text wirkt sehr poetisch, aber der Untertitel "Essay" erlaubt es dem Verfasser, die Beschreibung von eigenem Erleben mit gesellschaftsrelevanten Themen zu verweben.
Wenn ich die Wohnung in der Store Kongensgade 23 vor mir sehe, ist sie seltsamerweise stets leer, verzeih also, dass Du ein Buch über all das, was sein Verfasser nicht weiß, in Händen hältst. Andererseits: Was ich weiß, darüber muss ich nicht schreiben, denn ich weiß es ja schon. Um etwas zu erfahren, was ich nicht wusste, wandte ich mich eines Tages mit Mitte zwanzig erneut an einen Psychoanalytiker, und, wie sich zeigen sollte, diesmal den richtigen. (…) Mein Weg zur Psychoanalyse begann mit einer Ablehnung der Psychiatrie, die vom Entsetzen über die Behandlung meiner Mutter herrührte. Leseprobe
"Store Kongensgade 23": Ein melancholisch zartes Requiem
Im Schlussteil dieses ungewöhnlichen, klugen Buches erzählt Thomsen in Anerkennung und Dankbarkeit von seinen Eltern. Die Mutter wird geschildert als die, die eine schmerzliche Zeit lang einfach abwesend war, dann als Winterbadende, Sprachliebhaberin und Dichterin, der er noch kurz vor ihrem Tod einen Band mit ihren eigenen Gedichten überreichen konnte. So ist das Buch ein melancholisch zartes Requiem, beim Lesen fühlt es sich an wie Schmetterlinge im November.
Store Kongensgade 23
- Seitenzahl:
- 126 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-22552-3
- Preis:
- 20 €