"Vaters Stimme": Feinfühliger Roman über Gewalt in der Familie
Was den Roman von Tanja Schwarz interessant macht, ist ein sehr deutsches Phänomen: das Schweigen und die Weitergabe von Gewalt in der Erziehung, von den Eltern an die Kinder und die Enkel.
Nina hat einen Vater. Die 49-Jährige lässt Hans in ihr Leben. Selbstverständlich ist das nicht, denn Hans hatte sich kurz nach ihrer Geburt aus dem Staub gemacht, ohne Begründung. Nina wuchs allein bei ihrer Mutter auf. Ihr zehnjähriger Sohn Lenny hat jetzt den Kontakt zum Opa hergestellt.
Lenny zeigt mir auf seinem Smartphone einen Telefonbucheintrag, der tatsächlich der richtige ist, der volle Name meines Vaters und seiner jetzigen Frau, ihre Adresse. Lennys Daumen schwebt über "Anruf". Draußen ertönt das lang gezogene Signal eines dem Klang nach riesigen Schiffes. Leseprobe
Vom Vater ihres Sohnes lebt Nina getrennt, sie übernimmt Lenny alle paar Wochen. Sie hat eine Neubauwohnung in der Hamburger Hafencity, einen gut bezahlten Job, der sie aber nicht glücklich macht. Viele lose Enden. Tanja Schwarz skizziert in ihrem Roman "Vaters Stimme" das Leben einer Heimatlosen, Ungeliebten, sie macht es feinfühlend, genau.
Die Stimme des Vaters hat einen dunklen Unterton
Zusammen mit Lenny reist Nina in die alte Heimat, an den Fuß der schwäbischen Alb. Sie besucht den Vater und dessen Frau in einem braun getäfelten Haus. Es gibt Wurstsalat, der Hund heißt Wilko, und im Fernsehen laufen bayerische Polizeiserien. Deutsche Wirklichkeit: Schön, die etwas ungelenken Begegnungen zwischen Großstadt und Provinz. Hans schließt den Enkel in sein Herz, besichtigt mit ihm eine Höhle, obwohl der Angst vor Höhlen hat. Nur: Irgendetwas stimmt nicht. Die Stimme des Vaters hat auch einen dunklen Unterton.
Meine Mutter hat immer leise gesprochen. Aus Hans dagegen sprechen die Gewissheit und der herzhafte Zugriff auf alles, was seinen Lebenshunger stillt. Sie kommt nicht zu spät für mich, diese Vatersprache. Ihr Klang festigt und strafft mich innerlich ebenso wie ein Morgenlauf den Körper. Leseprobe
Hans mit Geländewagen und stockkonservativen Ansichten hat etwas Übergriffiges, latent Aggressives. Nina ignoriert diese Schwachstellen zunächst. Als wäre sie in seiner Schuld, nicht umgekehrt. Trotzdem, das Unbehagen wächst.
Die Geschichte gerät aus dem Fluss
Richtig sympathisch wird keine der Romanfiguren. Berührend sind die Szenen, in denen die irrlichternde Nina von einer Autobahnraststätte bei ihrem Ex-Freund anruft. Lose Momente abseits des Haupterzählstrangs. Und der Roman liest sich nicht leicht, strotzt vor Details, vom geriffelten Radieschen bis zum Hirschgeweih an der Gasthauswand. Tanja Schwarz schreibt über das Home-Schooling während der Pandemie, den Krieg in der Ukraine. Die Geschichte gerät aus dem Fluss.
Tanja Schwarz schreibt über ein deutsches Phänomen
Was diesen Roman interessant macht, ist ein sehr deutsches Phänomen: das Schweigen und die Weitergabe von Gewalt in der Erziehung, von den Eltern an die Kinder und die Enkel. Auch Nina räumt in einem versteckten Satz ein, sie habe Lenny, ihren heißgeliebten Sohn, schon mal geschlagen, aus Überforderung. Das ist ein kleiner Schock. Diese latente Brutalität wird erst durchkreuzt, als Nina die Frau ihres Bruders Andi kennenlernt, der sich vor Jahren umgebracht hatte. Da plötzlich setzt ein Umdenken über Hans ein, das sich von Seite zu Seite spannender liest.
Tanja Schwarz braucht lange, um ihre Geschichte zu fokussieren. Kurz vor Ende aber verbinden sich die Fäden. Es scheint fast so, als würde Nina dem Unglück ihrer Familie in die Arme laufen, um es zu bewältigen, ein für alle Mal. Im schweren Geländewagen ihres Vaters.
Ich lasse das Gas kommen, stelle mir vor, wie viel Sprit allein dieses röhrende Anfahren kostet. Ich sehe Hans, seine vormals kräftige Statur nun gebrechlich und kleiner, bis zum nächsten Abzweig im Rückspiegel. Leseprobe
Vaters Stimme
- Seitenzahl:
- 336 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- hanserblau
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27389-4
- Preis:
- 24 €