Ulrike Draesners neues Buch "zu lieben" trifft ins Herz
Ulrike Draesner erzählt in "zu lieben" eine sehr persönliche Geschichte. Das Thema Mutterschaft ist ein großes in den Neuerscheinungen dieses Herbstes - hier wird es auf noch einmal andere Weise erzählt.
Leserinnen und Leser von Pippi Langstrumpf wissen, wie klug das stärkste Mädchen der Welt ist - auch wenn seine Schulbildung zu wünschen übrig lässt. Pippi sagt: "Wenn das Herz nur warm ist und schlägt, wie es schlagen soll, dann friert man nicht." Dieses Zitat ist eines von dreien, die Ulrike Draesner ihrem Buch voranstellt: Es bleibt im Gedächtnis und begleitet uns beim Lesen dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte.
Was bedeutet Familie?
Draesners Tochter Mary ist drei Jahre alt, als die beiden sich kennenlernen. Bis dahin hat das Mädchen in einem von Schwestern geführten Kinderheim auf Sri Lanka gelebt. Die Autorin und ihr damaliger Mann reisen für die Adoption dorthin: endlich, am Ende einer langen Wartezeit - nach Fehlgeburten und einem langen bürokratischen Verfahren.
Wie lernen Eltern und Kind sich kennen und lieben? Was bedeutet es, wenn dieses Kind von einer anderen Frau geboren wurde, dazu in einem anderen Land, es zunächst keine gemeinsame Sprache gibt und das alles für Außenstehende ganz offensichtlich ist? Was bedeutet Familie? Die Autorin erzählt eine sehr persönliche Geschichte, doch weitet sie sie klug, und deshalb geht es in "zu lieben" immer auch um unser sich wandelndes Familienbild und eine Gesellschaft, die auf fremd Erscheinendes oft skeptisch blickt.
"Ah, adoptiert", sagt man zu mir. Ein "nur" schwingt mit. Das Zweiteklassegefühl stellt sich ein. "Aus Sri Lanka", sage ich. Mein Gegenüber sagt: "Ach deswegen." Ich nehme an, er oder sie meint unser "diverses" Äußeres. Jetzt ist es erklärt: "Nur adoptiert." Leseprobe
Draesner widerlegt dieses "nur" auf knapp 350 Seiten eindringlich. Es geht um Überwindung von anfänglicher Fremdheit mit Liebe, Mut und Zutrauen. Auch das Kind hat Angst. So duldet Mary lange keine Berührung von der Frau, die ihre Mutter werden will und wird.
"zu lieben": autobiografische Erzählung und Roman
Auch formal ist dieses Buch von Ulrike Draesner (wieder) hochspannend. Auf dem Cover steht Roman - allerdings ist das Wort durchgestrichen, beinhaltet also das "Ja" und das "Nein", und tatsächlich ist "zu lieben" beides, autobiografische Erzählung und Roman. Im Text finden sich ebenfalls ab und zu durchgestrichene Sätze oder Worte, die von der Suche nach dem passenden Ausdruck zeugen sowie am Beginn einzelner Kapitel aus Buchstaben und Worten geformte Vignetten, zum Beispiel eine Fahne aus den Worten "schwarz", "rot", "gold". Draesner erforscht, was Elternschaft, was Mutterschaft bedeutet. Und während die Liebe zwischen Eltern und Kind wächst, schleicht sich die zwischen den Ehepartnern auf leisen Sohlen davon. Beide, die Ich-Erzählerin und ihr Mann, vereinsamen und können einander in diesem schwierigen Prozess nicht wirklich helfen:
Hunter sagte, ich sollte erwachsen sein. Sagte es leise, wie nebenbei, als wäre es nichts. Während er es sagte, verlor ich seine Augen, ich meine, sie wurden leer, es war, als spiegelte ich mich nicht mehr in ihnen, als rutschte ich an ihm ab. Ich rutschte aus ihm heraus. Leseprobe
In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Dieses Buch trifft ins Herz, so dicht, so unmittelbar ist es erzählt, doch immer wieder wechselt die Autorin den Ton, analysiert, reflektiert, fragt: In welcher Gesellschaft wollen wir leben - mit welchem Familienbild? Das Thema Mutterschaft ist ein großes in den Neuerscheinungen dieses Herbstes - hier wird es auf noch einmal andere Weise erzählt. Eine ebenso schmerzhafte wie beglückende Lektüre.
zu lieben
- Seitenzahl:
- 352 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Penguin
- Bestellnummer:
- 978-3-328-60341-2
- Preis:
- 24 €