Thriller "Anständige Leute": Abrechnung mit der Geschichte Kubas
"Anständige Leute" ist der achte Roman mit Mario Conde, dem Helden des "Havanna Quartetts". Eine Analyse im Gewand des Thrillers, die Leonardo Padura seit 1991 über die ungeschriebene Geschichte seiner Insel voller Wut und Liebe fortgeschrieben hat.
Als "kriminalliterarische Lebenszeugnisse aus Kuba" bezeichnete die Zeitschrift "Kaliber 38" das Werk des listigen Padura, der die Kriminalliteratur von Kuba wie kein anderer umgekrempelt hat und sie dazu nutzt, tabuisierte Ereignisse auf der Zuckerinsel zu thematisieren.
Der Autor leuchtet das boomende Nachtleben von Havanna zu Beginn des 20. Jahrhundert aus, als der Halley’sche Komet die Bewohner der Stadt angesichts des nahenden Weltenendes sich in orgiastische Delirien stürzen lässt.
Jetzt noch Geld für irgendwelche Fernrohre oder Himmelskarten auszugeben, erschien ihnen sinnlos. In der gesamten Stadt galt nur mehr das Gesetz von Wollust und Ekstase. Leseprobe
Handlung à la "Babylon Havanna" aus zwei Perspektiven erzählt
Doch Padura belässt es nicht bei dieser einen Epoche, obwohl ihr Facettenreichtum schon für eine ganze Serie à la "Babylon Havanna" ausreichen würde. Der Kubaner liebt den Kontrast und das Vexierspiel und so erzählt er diesen Roman in schnellem scharfen Wechsel aus zwei Perspektiven zugleich.
Zum einen mit dem Blick des resignierten ausgeschiedenen Kommissars Mario Conde aus den Tagen, da Barack Obama und die Rolling Stones Havanna zu besuchen drohen, während zerstückelte Leichen aufgefunden werden. Zum anderen mit dem Blick seines Vorgängers, des jungen Arturo Saborit Amargó. Der schreibt seine Lebensbeichte nieder, weil er in der wilden Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts anständig bleiben wollte und wider Willen zu einem Mörder geworden ist.
Für alles, was den Gesetzen zuwiderläuft, gibt es in Havanna jedoch legale Räume, und ich fand schon bald heraus, dass wir, die Obrigkeit, und nicht die Gesetze dafür zuständig waren, in dieser Hinsicht die Grenzen abzustecken. Ebenso schnell begriff ich, dass dieses Vorrecht die reinste Goldmine darstellte, die meine Kollegen auch nach Kräften ausbeuteten, vom einfachen Straßenpolizisten bis hinauf zum Bezirkskommandanten. Leseprobe
Enthüllung verdrängter staatlicher Verbrechen
Mario Conde lässt sein Leben Revue passieren. Neun Jahre alt ist Conde, als er den Song "It's been a hard days night" der Beatles auf einer geschmuggelten Raubkopie zu hören bekommt.
1964, im "Jahr der Wirtschaft", war er ins Heiligtum der Eingeweihten gelangt, in das per Dekret verbotene Land. Leseprobe
1964 waren die Beatles - wie die Rolling Stones - wie überall hinter dem Eisernen Vorhang als Bedrohung der sozialistischen Moral strengstens verboten.
Verboten deshalb, weil die großen Erleuchteten ihre Aufgabe darin sahen, an der Ausbildung eines höheren Bewusstseins zu arbeiten, sie, die Weltschöpfer und ihre diversen Nachfolger, die sich dieser Tage auf einmal nicht im Geringsten schämten, jubelnd zu verkünden - mit Pauken und Trompeten und allem Trara -, dass schon bald in diesem seltsamen Frühling des Jahres 2016 die Rolling Stones in Havanna auftreten würden. Leseprobe
Es sind diese Volten der sozialistischen Moral, die Padura wie Schmetterlinge voller Häme aufpiekst. In dem Vexierspiel dieser Zeiten spielen sich die Verbrechen ab, die den Suspense des raffiniert komponierten Thrillers steigern. Denn die Erinnerung kennt keine Zeitenwende. Morde an Prostituierten, die entstellten Körper zweier korrupter Funktionäre und der resignierte, am Hungertuch nagende Ermittler Conde, der aufgrund der Überlastung seiner Ex-Kollegen durch die ausländischen Gäste um Hilfe gebeten wird, legen die Lunte an die Enthüllung verdrängter staatlicher Verbrechen. Rache ist die böse kleine Schwester der Erinnerung.
Wir nehmen an, dass er gestoßen worden ist. Kompliziert wird es aber erst danach, ihm wurden nämlich auch der Penis und drei Finger der rechten Hand abgeschnitten. Leseprobe
Mit viel Liebe zum Detail
Am Anfang des Romans also steht der grausige Mord an einem greisen Kulturfunktionär. Zentrale Figur und Katalysator der spannungsreichen Handlung aber ist eine andere Person. Alberto Yarini y Ponce de León, der ungekrönte König der Nachtwelt von Havanna, der 1910 von französischen Zuhältern erschossen wird.
Ich habe viel darüber nachgedacht und glaube jetzt, dass der kometenhafte Aufstieg einer Gestalt wie Alberto Yarini sich nur aus jenem anfänglichen Gefühl der Leere, der nationalen Ungewissheit und dem schlechten Gedächtnis von uns Kubanern erklären lässt. Leseprobe
Als Reporter der Abendzeitung "Juventud Rebelde" begegnete Padura in seinen jungen Jahren dieser Figur und der faszinierenden Epoche, die er nun mit unbändiger Lust am historischen Detail seziert.
Ein kubanischer Roman voller Bitterkeit, mit feuchten Lippen, aber auch mit Schaum vor dem Mund über die frivolen Jahre des Fin de Siècle auf der Zuckerinsel und der sozialistischen Republik. Und über die Unmöglichkeit, in diesem Treibhaus voller Raffgier und Korruption anständig zu bleiben. Leonardo Padura ist bisher nicht emigriert, aber er hat sich mit überbordender Fabulierlust und Detailfreude von dem tiefen Schmerz jahrelanger Knechtschaft befreit. Lesen Sie selbst.
Anständige Leute
- Seitenzahl:
- 400 Seiten
- Genre:
- Krimi
- Zusatzinfo:
- Übersetzt von Peter Kultzen
- Verlag:
- Unionsverlag
- Bestellnummer:
- 978-3-293-00621-8
- Preis:
- 26 €