Cover von "Tausend und ein Morgen" von Ilija Trojanow © S. Fischer

"Tausend und ein Morgen": Trojanows vielschichtiger Zukunftsroman

Stand: 04.09.2023 06:00 Uhr

Mit seinem Roman "Tausend und ein Morgen" kreiert der Schriftsteller Ilija Trojanow durch Zeitreisen und Paralleluniversen einen magischen Raum der Gedankenspiele.

von Jürgen Deppe

Ilija Trojanow bezeichnet seinen neuen Roman in einem Werbevideo selbst als positive Utopie: "Utopie ist die Möglichkeit, das Kommende zu gestalten. Utopie wird ja oft missverstanden als etwas Absurdes, Verrücktes, etwas Unerreichbares. Eigentlich ist Utopie eine Erzählung dessen, was möglich ist, also noch nicht ist. (…) Wir brauchen neue Erzählungen, um uns gerade heutzutage zu befreien von einer Lethargie und einer Passivität, die darin besteht, dass man sich eine andere Welt nicht vorstellen kann."

"Die Vergangenheit ist unvorhersehbar"

Trojanows utopische Erzählung beginnt in der Zukunft, in der die Welt sich zur besten aller möglichen gewandelt hat, die Menschen - die jetzt Cya, Samsil oder Domru heißen - aller Sorgen ledig sind und sich dank neuester Zeitreise-Technik der Aufgabe widmen können, auch die Vergangenheit zu einem Ort ohne Erniedrigung zu verwandeln. Denn - so proklamiert es die künstliche Intelligenz GOG: "Geschichte ist das, was anders hätte verlaufen müssen" - damit sich alles früher zum Besseren wandelt und der Menschheit viel Leid erspart wird. Doch: "Die Vergangenheit ist unvorhersehbar."

Denn selbst wenn Cya aus der Zukunft weit zurück in die Karibik des frühen 18. Jahrhunderts zeitreist, um die klassenkämpferische Piratin Fliege vor dem Galgen und die Welt vor einer Entwicklung zum Schlechteren zu bewahren, bleibt die Welt eine ungerechte. Dabei reist Cya doch ins abenteuerliche "Damalsdort", "um es zu verändern, um es zu verbessern".

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Wo könnte man einen anderen geschichtlichen Verlauf herbeirufen?

Die durchaus philosophische Frage, die Trojanow dabei umtreibt: "Ist Geschichte nicht das, was anders hätte verlaufen müssen?" Und wenn man diese Annahme akzeptiere, überlegt er weiter, "inwieweit kann man, indem man in die Zeit zurückreist, tatsächlich einen anderen geschichtlichen Verlauf herbeirufen? Daraus ergibt sich natürlich eine entscheidende Frage: Wo sind die neuralgischen Punkte, wo sind Kreuzungen, die dynamischen Momente in der Menschheitsgeschichte, wo könnten solche Menschen mit einer ganz anderen Haltung und einem ganz anderen Habitus etwas Relevantes verändern?"

Im Roman reist Cya dafür auch noch ins revolutionäre Russland der Jahre 1917/18, ins damals noch jugoslawische Sarajewo des Jahres 1984, als sich dort parallel zu den Olympischen Spielen Geheimagenten aus aller Welt trafen, und ins Bombay der nahen Zukunft, wo sich religiöse Intoleranz gnadenlos Bahn bricht.

Auch die beste aller Welten ist nicht perfekt

Solche Zeitreisen wurden Mitte der 80er-Jahre auch schon in James Camerons "Terminator" gemacht, um in der Vergangenheit die Weichen für eine bessere Gegenwart zu stellen. Oder der Reisende in H.G. Wells' "Die Zeitmaschine", der in der vermeintlich besten aller Welten ankam - um sie alsbald schockiert wieder zu verlassen. Denn so perfekt, wie sie scheint, ist die beste aller Welten nicht - auch nicht bei Trojanow. In der fast sektenhaften "Gemeinde" aus Zukunftswesen, die nur das Beste wollen, hat die künstliche Intelligenz GOG das Sagen. Eigentlich ist GOG nur der Chronist der Zeitreisen, aber er verselbständigt sich und bearbeitet die Schilderungen der Chronautin nach eigenen, undurchschaubaren Maßstäben.

Ilija Trojanows neuer Roman - der natürlich auch an Scheherazades "Tausend und eine Nacht" anspielt - ist ein vielschichtiger, philosophischer Zukunfts- und Abenteuerroman. Ein fulminantes Gedankenspiel!

Tausend und ein Morgen

von Ilija Trojanow
Seitenzahl:
528 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
S. Fischer
Bestellnummer:
978-3-10-397339-6
Preis:
30 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 04.09.2023 | 12:40 Uhr

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