Späte, aber grandiose Entdeckung: Marvel Morenos "Im Dezember der Wind"
Um eine ganze Welt reicher fühlt man sich, wenn man diesen grandiosen Roman von Marvel Moreno zuklappt. Warum nur hat es 36 Jahre gedauert, bis wir dieses Buch und diese Autorin auf Deutsch entdecken durften?
In den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts freundete sich Marvel Moreno, eine rebellische junge Frau, die Schriftstellerin werden wollte, mit anderen Autoren und Künstlern aus der "Gruppe von Barranquilla" an. Zu der gehörte auch der spätere Träger des Literaturnobelpreises Gabriel García Márquez. Aber zu den Treffen der Gruppe in einer Bar wurde Marvel Moreno der Zutritt verwehrt: weil sie eine Frau war. Zu dieser Ungerechtigkeit gesellte sich später eine noch viel größere: Das literarische Werk Morenos, die mit nur 55 Jahren verarmt in Paris starb, wurde kaum beachtet und geriet nahezu in Vergessenheit, obwohl sie besser schrieb als viele ihrer erfolgreichen männlichen Kollegen. Nun ist ihr Debütroman "Im Dezember der Wind", 1987 im Original erschienen, zum ersten Mal in deutscher Übersetzung herausgekommen.
"Im Dezember der Wind": Atemberaubend gut geschrieben
Benito Suárez wollte sie umbringen: Er verkündete es brüllend, während er das verwaiste Haus durchkämmte. Leseprobe
In den 50er-Jahren in einer Villa im Reichenviertel der kolumbianischen Hafenstadt Barranquilla: Die 13-jährige Lina versteckt ihre 16-jährige Freundin Dora vor deren gewalttätigem Freund. Eben diesen Benito Suárez heiratet Dora später. Und er prügelt sie schließlich aus dem gemeinsamen Haus. Die Frauen in Marvel Morenos atemberaubend gut geschriebenem und von Rike Bolte bestechend übersetztem Debüt können der Gewalt nicht entkommen in dieser streng katholischen Gesellschaft, in der Machos Frauen vergewaltigen und, wenn sie keine Jungfrauen mehr sind, auspeitschen.
Der Literaturwissenschaftler Fabio Rodríguez Amaya ist ein intimer Kenner von Morenos Werk: "Wenn man eine Synthese von Marvel Morenos Poetik erstellen wollte, wäre folgende Überzeugung zentral: Um die wirkliche Befreiung der Frau, die Abschaffung der Klassen und einen umfassenden demokratischen Gemeinsinn zu erreichen, muss die Frau über ihren Körper selbst bestimmen und ihre Sexualität frei ausüben können."
Tragikomische Einblicke in die menschliche Seele
Im Roman "Im Dezember der Wind" erinnert sich die in Paris lebende, kränkliche Lina, das Alter Ego der Autorin, an die aristokratischen Familien Barranquillas und verfolgt ihre Geschichte bis zur Zeit der Kolonialisierung zurück. Im Zentrum stehen drei ihrer Mitschülerinnen - die unterwürfige Dora, die schöne Catalina und die anfangs puritanische Beatriz -, die zu Frauen heranwachsen und in unglücklichen Ehen enden. Das klingt nach deprimierender Lektüre. Aber man genießt die Beschreibungskunst dieser Autorin von Weltrang. Moreno erzählt zwar äußerst dicht und ihre verschachtelten Sätze verlangen dem Leser Konzentration ab, dafür wird er allerdings ausgiebig mit tiefen psychologischen, oft tragikomischen Einblicken in die Figuren belohnt:
Álvaro Espinoza liebte Ordnung. Nicht einmal die in der Jesuitenschule erworbenen ontologischen Kenntnisse hatten seinen Abscheu vor dem widerlichen Chaos gemildert, aus dem das Leben bestand (...). Der Gedanke, die Schöpfung sei diabolischen Ursprungs, und all das, was dieser Gedanke an Zweifeln an der Macht und der Güte Gottes mit sich brachte, hatten seinem Wunsch, dem Orden des Heiligen Ignatius beizutreten, ein Ende bereitet und zu seinem dritten Selbstmordversuch geführt. Leseprobe
An Álvaro Espinoza, der auch noch ein Frauenverächter ist, rächt sich im Roman seine Ehefrau Catalina. Sie besorgt einen Revolver und legt ihn, nur scheinbar aus Unachtsamkeit, gut sichtbar für ihren selbstmordgefährdeten Ehemann auf ein Nachttischchen. Eine Frau, die noch als Kind von ihrem Ehemann vergewaltigt wurde, versucht gar, alles Männliche aus ihrem Umfeld zu tilgen: Kurz bevor sie ihren Gärtner entlässt, befiehlt sie ihm, alle männlichen Tiere auf dem Anwesen zu enthaupten. Wenn dann von den "zu strengster Keuschheit verpflichteten Papageiendamen" die Rede ist, muss man einfach laut auflachen.
"Die wichtigste kolumbianische Schriftstellerin unserer Literaturgeschichte"
Um eine ganze Welt reicher fühlt man sich, wenn man diesen grandiosen Roman zuklappt. Und man fragt sich: Warum nur hat es 36 Jahre gedauert, bis wir dieses Buch und diese Autorin auf Deutsch entdecken durften?
"Marvel Moreno ist die wichtigste kolumbianische Schriftstellerin unserer Literaturgeschichte", findet der Literaturwissenschaftler Fabio Rodríguez Amaya. Nach der Lektüre von "Im Dezember der Wind" möchte man ihm nicht widersprechen.
Im Dezember der Wind
- Seitenzahl:
- 432 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem kolumbianischen Spanisch von Rike Bolte
- Verlag:
- Klaus Wagenbach
- Bestellnummer:
- 978-3-8031-3354-0
- Preis:
- 32 €