Sasha Filipenkos "Kremulator": Schmales Buch mit monströsem Inhalt
Den Roman "Kremulator" von Sasha Filipenko durchweht eine Kälte, die ins Mark geht. Fast wie im Vorbeigehen liefert das Buch auch einen tintenschwarzen Kommentar zum Russland von heute.
Die Bücher von Sasha Filipenko werden in mehr als 15 Sprachen übersetzt. Der 38-jährige belarussische Autor ist auch politisch aktiv, kritisierte das Lukaschenko-Regime in mehreren Artikeln. Er musste 2020 Russland verlassen und lebt mit seiner Familie im Schweizer Exil. Jetzt ist sein neuester Roman auf Deutsch erschienen.
Das gefährliche Leben in einem Terrorstaat
Der Lauf ist nicht kalt, nicht eisig. Im Gegenteil, durch die vorangehenden Erschießungen ist er aufgeheizt. Ein reibungsloser Ablauf, daher bleibt mir nicht viel Zeit, mich mit diesem Umstand aufzuhalten. Leseprobe
Man spürt die Pistolenmündung förmlich im Nacken. Das Leben: flüchtig - keine Sekunde und es ist weggeblasen. Pjotr ist am Ende, oder doch nicht? Es ist drastisch, wie der Autor hier die Gefährdung des Menschen in einem Terrorstaat erzählt. Dennoch leuchtet da was im Augenwinkel: trotziger Humor.
Wer dieses relativ schmale Buch in die Hand nimmt, ahnt zunächst nicht, wie monströs sein Inhalt ist. Am 23. Juni 1941 wird Pjotr Nesterenko, der Direktor des Moskauer Krematoriums, verhaftet. Es ist der Tag nach Beginn des deutschen Angriffskriegs auf Stalins UdSSR.
Ein Mensch, dem der Tod nichts anhaben kann
Sasha Filipenko zeichnet einen Menschen, dem der Tod nichts anhaben kann, zumindest glaubt er das. Er hat die Revolution überlebt. Er hat gegen die Bolschewisten gekämpft, ist durch halb Europa geflüchtet, eine Kugel durchschlug ihm den Hals, Unfälle, Zufälle, ein Spielball der Zeit.
In Saratow sitzt Pjotr Nesterenko dem ehrgeizigen Beamten Perepeliza gegenüber. Dass am Ende des Verhörs das Todesurteil steht, ist für den lupenreinen "Sowjetmenschen" ausgemachte Sache, er verdächtigt Pjotr wegen seiner internationalen Kontakte, aber braucht es Gründe? Er will alles von Pjotr Nesterenko wissen, und der zappelt nicht wie die Maus im Käfig. Fast lakonisch, ohne Angst will er Zeit gewinnen. Erzählt von seiner Flucht als Offizier von der Krim nach Konstantinopel 1920, nach der Oktoberrevolution.
Binnen weniger Minuten war auf den Schiffen die übliche Willkür ausgebrochen, jene Rechtlosigkeit, die tief in der russischen Erde zu wurzeln scheint und uns seit Jahrhunderten fest im Griff hat. Leseprobe
Die Grausamkeiten der Stalin-Zeit
Pjotr Nesterenko berichtet von einer Welt im Zerfall, einer verlausten Armee auf der Flucht vor den Bolschewisten. Ob in Belgrad, Warschau oder als Taxifahrer in Paris: Der Überlebende Pjotr flüchtet weiter, folgt seinem Traum, Pilot zu werden, Vera, die Jugendfreundin, wiederzufinden.
Schließlich endet Pjotrs Bericht in Stalins UdSSR, in Moskau. Hier wird er Chef des Moskauer Krematoriums, und hier gehen durch seine Hände tausende, zehntausende Leichen. Er arbeitet Tag und Nacht. Nachts kommen die Politischen, die Opfer des stalinistischen Terrors, die mit den Genickschüssen, übrig bleiben die Kugeln. Die halbe russische Intelligenz äschert er ein. Sein Kremulator zermahlt die Knochenreste zu Staub. Pjotr sieht sich als Charon, den Fährmann, der die Toten über den Styx trägt:
Die Moskwa wurde zum Styx, und während ich den Ofen anheizte, sah ich den Leichenwagen durch die schlafenden Gassen der Hauptstadt kurven. Leseprobe
"Kremulator": Ein Kommentar zum Russland von heute
Das Buch durchweht eine Kälte, die ins Mark geht, aber seine Erzählerfigur Pjotr ist nicht kalt. Wie es dem Autor gelingt, Pjotr Nesterenko zu einem - wenn auch nicht ganz so braven - Soldaten Schwejk zu machen, der alle Gräuel überlebt und sie in brutaler Klarheit sieht, ist einfach atemberaubend. Und fast wie im Vorbeigehen liefert das Buch einen tintenschwarzen Kommentar zum Russland von heute, schildert die Rechtlosigkeit, die Willkür, die Brutalität. Das Wiedersehen mit Vera - wie es Pjotr schildert - ist ein erschütternder Moment.
Kremulator
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
- Verlag:
- Diogenes
- Bestellnummer:
- 978-3257072396
- Preis:
- 25 €