Ronya Othmanns "Vierundsiebzig": Massakrieren im Namen des Islam
"Vierundsiebzig" von Ronya Othmann ist Reportage, Essay, Reisebeschreibung - ein 500-seitiges Buch über das Dokumentieren des Völkermords an den Jesiden und der Versuch, eine Sprache dafür zu finden.
Im Januar 2023 hat der Deutsche Bundestag den Völkermord offiziell anerkannt, den die Terrormiliz des Islamischen Staats 2014 an den Jesiden beging. Die Schriftstellerin Ronya Othmann, Tochter einer deutschen Mutter und eines in türkischen Gefängnissen gefolterten syrisch-kurdisch-jesidischen Vaters, befasst sich in ihren Büchern mit der schmerzvollen Verfolgungsgeschichte der Glaubensgemeinschaft. 1993 in München geboren, hat sie zunächst als Journalistin begonnen. 2020 erschien ihr viel beachteter Debütroman "Die Sommer", in dem sie bereits ihrer Familiengeschichte auf den Grund ging. Das Buch wurde mit einem Literaturpreis ausgezeichnet, wie auch der nachfolgende Lyrikband "Die Verbrechen". Für ihre Lesung aus ihrem jetzt erscheinenden zweiten Roman "Vierundsiebzig" erhielt sie 2019 den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Fünf Jahre hat Ronya Othmann noch bis zur Fertigstellung gebraucht. Jetzt liegt das umfangreiche Werk vor.
"Vierundsiebzig": Reportage, Essay und Reisebeschreibung
Der Völkermord an den Jesiden beginnt im August 2014 in der irakischen Region Shingal. Weil sie die Zwangsbekehrung zum Islam verweigern, werden sie umgebracht. Für die Gotteskrieger des "Islamischen Staats" ist die Tötung von Ungläubigen "halal". Ganze Dorfgemeinschaften werden ausgelöscht, viele Mädchen und Frauen verschleppt. Es gibt Sklavenmärkte in Rakka und Mossul, auf denen Jesiden verkauft werden.
Vor 2014 kennt man die Eziden in Deutschland nicht. (…) 2014 wissen die Leute, dass es Eziden gibt. In den Schlagzeilen aller Zeitungen ist von uns zu lesen. Berge, Staub und Menschen, die um ihr Leben rennen. Titelbilder. Tagesschau. Wir werden ermordet. Leseprobe
"Vierundsiebzig" ist Reportage, Essay, Reisebeschreibung - ein 500-seitiges Buch über das Dokumentieren des Völkermords und der Versuch, eine Sprache dafür zu finden. Darüber hinaus will Othmann auch die vielen Verfolgungen der Jesiden im Lauf der Jahrhunderte vergegenwärtigen: Der Titel des Buches bedeutet, dass die Gemeinschaft 2014 bereits den 74. historisch verbürgerten Massenmord erlebte.
Ronya Othmann reist in die kurdisch-jesidischen Gebiete, besucht Gedenkstätten und Flüchtlingscamps, trifft Verwandte und Freunde, manche knapp dem Morden entkommen. Sie hört den Überlebenden zu, wenn sie von der Terrorherrschaft des IS erzählen.
Fast 6.000 ezidische Frauen und Mädchen, lese ich, waren in IS-Gefangenschaft. Nahezu jede wurde vergewaltigt. Bis heute wurde nur die Hälfte aus der Gefangenschaft befreit oder konnte fliehen. Leseprobe
Ronya Othmanns atmosphärische Prosa
Auch wenn "Roman" auf dem Umschlag steht - "Vierundsiebzig" ist keiner, es gibt keine Spielfreiheit der Fiktion. Die Instanz des erzählenden Ichs ist dennoch wichtig, denn sie hält den ausufernden Text zusammen und macht das Umkreisen des Unbegreifbaren psychologisch plausibel.
Das größte Problem des Buches ist sein Ehrgeiz. Othmann belässt es nicht bei den Nöten der Jesiden, sie erzählt auch vom Völkermord an den Armeniern, von den Massenmorden Saddam Husseins, von der Folter in türkischen Gefängnissen und der nicht endenden Misere der staatenlosen Kurden.
So droht das Buch zu einem unübersichtlichen, seine Form nicht recht findenden Materialkonvolut zu werden. Die Rettung kommt im letzte Viertel. Othmann beschreibt hier in atmosphärischer Prosa, wie sie gemeinsam mit ihrem alle Religionen für Unsinn erklärenden Vater in die Gebiete der religiösen Fanatiker reist. In der nordirakischen Region Shingal nimmt sie die Orte des Völkermords in Augenschein, fährt mit beklommenen Gefühlen durch die Dörfer der vormaligen IS-Anhänger, unversehrt neben den zerstörten Orten der Jesiden. Überlebende berichten, wie sich viele arabische Nachbarn an den Morden beteiligten.
Auch wenn "Vierundsiebzig" durch etwas mehr Straffung und Formung gewonnen hätte - es ist gut, dass Ronya Othmann mit einer Gründlichkeit, die sich und ihren Lesern keine mildernden Umstände gönnt, das Massakrieren im Namen des Islam dokumentiert. Mit sogenannter "Islamophobie" hat das nichts zu tun. Denn eine Phobie ist ja die krankhafte Furcht vor etwas eigentlich Harmlosem.
Vierundsiebzig
- Seitenzahl:
- 512 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Rowohlt
- Bestellnummer:
- 978-3-498-00361-6
- Preis:
- 26 €