Roman "Ich stelle mich schlafend": Einmal Opfer, immer Opfer
Mit ihrem Debütroman "Streulicht" stand Deniz Ohde vor vier Jahren auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Jetzt legt sie den zweiten Roman nach, der jedoch literarisch nicht überzeugen kann.
Yasemin fühlt sich schuldig. Immer schon. Von Geburt an. Für das Mädchen, das mit türkischen Wurzeln in einer Hochhaussiedlung im Rhein-Main-Gebiet aufwächst, folgt aus dem Schuldkomplex:
Sich zu entschuldigen, das war ihre Lebensaufgabe, ihr Lebensgefühl, ihre ganze Lebensform. Leseprobe
Die vermeintliche Schuld, die auf ihr lastet:
Yasemin war aus einem gebrochenen Willen gezeugt worden. Sie war durch einen Kaiserschnitt auf die Welt gekommen. Leseprobe
Teenie-Liebe auf den ersten Blick
Es wäre gemein, das alles gleich am Anfang zu verraten - aber genau das tut Deniz Ohde auch. Allerdings schenkt sie diesem nahezu allumfassenden Schuldgefühl der Protagonistin in den ersten fast zwei Dritteln des Romans dann kaum noch Beachtung und erzählt stattdessen im Rückblick Yasemins Geschichte.
Als Yase, wie sie auch genannt wird, fast 14 ist, verknallt sie sich morgens auf dem Weg zur Schule in den Nachbarsjungen Vito. Es ist eine Teenie-Liebe auf den ersten Blick und geht auch bald in die Brüche. Aber sie bleibt Yasemins Heilsfantasie. Denn nach einem Reitunfall und einer daraus resultierenden Rückenverletzung muss sie monatelang in einem Sanatorium und einem Stützkorsett verbringen. Viel Zeit, um vom Mädchen zur Frau zu reifen und alle Sehnsüchte auf ihre Teenie-Liebe zu projizieren.
Was für Yase zählte, war der Eindruck, dass sie erst jetzt in ihrem Körper ankam. Dass sie sich erst jetzt darüber bewusst wurde, einen Körper zu haben. (…) Vito wurde währenddessen zu einem Ankerpunkt ihrer Gedanken. Ein Ort in ihrem Kopf, zu dem sie sich flüchten konnte und der sinnbildlich für das Ende ihres Aufenthalts stand. Leseprobe
Von traumhafter und toxischer Liebe
Es dauert 20 Jahre, bis sich Yasemin und Vito in einem verregneten Park zufällig wiedersehen. Yasemin hat sich nach einigen wechselnden Freunden, durch einen Job in einem Kaufhaus, eine langweilige Beziehung und eine eigene Wohnung in einer gewissen Spießigkeit eingerichtet. Vito ist dagegen nach einem frühen Italienurlaub nie in ein geregeltes Leben eingebogen und schmarotzt sich ziellos durchs Hier und Jetzt. Trotzdem wird er nach 20 Jahren für Yasemin erneut zum Ziel ihrer Träume.
Aber Vito war kein Auferstandener, sondern ein Untoter, jemand, der in der Vergangenheit hätte bleiben sollen. Leseprobe
Denn die neue Beziehung wird toxisch, Vito zum selbstgefälligen Despoten und Yasemin zur willenlosen Erfüllerin.
Deniz Ohdes Roman krankt an mehreren Stellen
So schließt sich Ohdes Opfer-Zyklus, der auch in "Streulicht" schon das Rad der Geschichte drehte: einmal Opfer, immer Opfer. In "Ich stelle mich schlafend" wird daraus nun: Durch einen Willensbruch gezeugt, zum Opfer eines Willensbruchs werden. Es scheint allerdings, als traue Deniz Ohde ihrer Opferanalyse selbst nicht ganz. Zur Rettung bemüht sie mitten im Erzählstrom plötzlich Juristerei, um "Willensbruch" rechtlich zu differenzieren, und Statistik, mit der sie zeigen will, dass aus Opfern immer wieder Opfer werden.
Doch dieser mehrfache Stilbruch ist es nicht allein, woran der Text krankt: Aus wessen Perspektive wird hier eigentlich erzählt? Und wessen Sprache wird hier gesprochen? Jedenfalls eine, die eher hölzern von schiefem Bild zu schiefem Bild holpert als einzunehmen und zu überzeugen. Das mag der verzweifelte und schlecht artikulierte Schrei eines - warum auch immer - schuldbewussten Opfers sein, literarisch überzeugen tut das nicht.
Ich stelle mich schlafend
- Seitenzahl:
- 250 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-43170-2
- Preis:
- 25 €