Roman "Ein klarer Tag": Ein Pfarrer im moralischen Dilemma
Carys Davies schreibt verwunschene, rätselhafte Romane, die als brillante Meisterwerke von Rezensenten und Kolleg*innen gefeiert werden. "Ein klarer Tag" führt in das Jahr 1843 auf eine abgelegene Shetlandinsel.
Es ist eine wahrlich eigentümliche Geschichte. Ein schottischer Pfarrer ist in bedrängende Geldnot geraten. Um sich und seiner Ehefrau wieder ein sorgenloseres Leben zu ermöglichen, nimmt er einen Auftrag an, der eigentlich nicht seinen moralischen Vorstellungen entspricht: Er soll dafür sorgen, dass der letzte Einwohner einer sehr einsamen Insel sein Zuhause verlässt, damit das Land vom einem Großgrundbesitzer gewinnbringender genutzt werden kann. Pfarrer John Ferguson ist ein etwas hölzerner, unbeholfener Mann. Aus Stolz hat er das Angebot eines Verwandten seiner Frau, ihnen Geld zu leihen, ausgeschlagen - was zu einem zerbrechlichen Frieden zwischen den Eheleuten beim Abschied für seine lange Reise führt. Den möchte Mary nicht auch noch gefährden:
Als sie ihm auf dem Kai gegenüberstand, hob sie die Arme und richtete seinen Mantelkragen, der sich aufgestellt hatte. Sie klappte ihn wieder um und strich ihn glatt, als wäre sie eine Mutter, die ihren einzigen Sohn zur Marine schickt und fest entschlossen ist, sich keine Blöße zu geben und nicht zu weinen. "Gute Reise, John Ferguson", sagt sie. Leseprobe
Eine zärtliche Freundschaft entsteht
Carys Davies, das zeigt sich schon in solchen kleinen Szenen, hat ein untrügliches Gespür für Details, die unscheinbar wirken und doch eine unglaublich starke Wirkung entfalten. Ein Kosmos ganz eigener Art öffnet sich kurz darauf, als John auf der Insel ankommt und endlich Ivar dem letzten Bewohnen der Insel begegnet. Ivar spricht einen alten Dialekt und die beiden brauchen etliche Tage, um eine gemeinsame Sprache zu finden. Kurz nach seiner Ankunft hatte John sich bei einem Sturz verletzt und musste von Ivar geborgen und dann tagelang versorgt werden. Das erzeugt eine Zärtlichkeit zwischen den beiden Männern, die vollkommen überraschend ist. Sie kochen, stricken, reparieren Haushaltsgegenstände miteinander und John lernt Ivars Sprache, die in mancher Hinsicht reicher und differenzierter ist als seine eigene. Er lernt viel von seinem schweigsamen Gastgeber, der es versteht, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind:
Ich habe die Klippen, die Riffe und die Vögel. Ich habe den weißen Hügel, den runden Hügel und den spitzen Hügel. Ich habe klares Quellwasser und saftige Weiden, die das schräge Inselplateau überziehen wie eine Decke. Ich habe die alte schwarze Kuh und das Süßgras zwischen den Felsen, ich habe einen bequemen Sessel und ein solides Haus. Ich habe das Spinnrad und die Teekanne (…) und wundersamerweise habe ich jetzt auch John Ferguson. Leseprobe
Es wird von Tag zu Tag unmöglicher für John, seinen Auftrag, Ivar von der Insel zu scheuchen, zu erfüllen. Die beiden Männer haben sich in ihrer eigentümlichen Schrulligkeit gegenseitig ins Herz geschlossen.
Schöner Roman mit überraschendem Ende
Die klare Schönheit des Textes, immer mit Blick auf karges Land und oft sturmtosende See ist vorzüglich übersetzt von Eva Bonné. Der Schluss dieses Romans ist so ziemlich der überraschendste, den ich in der Literatur kenne. Es kann aber leider nicht ausgeplaudert werden, wie der Konflikt im Herzen von John Ferguson gelöst wird.
Ein klarer Tag
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Eva Bonné
- Verlag:
- Luchterhand
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87770-9
- Preis:
- 24 €